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55 m² Großplantage

"Vertical Farming" heißt die Antwort der Agrarindustrie auf Klimakrise und Ackerlandknappheit: Landwirtschaft im Hochhaus, zwischen Bankenturm und Penthousewohnung.
Leo Riegel war zu Besuch in Deutschlands erstem Farmscraper.

Von morgendlichen Nebelschwaden verhangen könnte man sie glatt übersehen, die "Ackerstelze", wie die Bewohner von Kassel-Waldau den Green Tower 39 liebevoll nennen. Kaum zu übersehen hingegen Peter Kleinhans. Der Projektleiter und 2-Meter-Hüne erwartet mich mit kräftigem Händedruck vor dem Eingang. In Japan und Südkorea, so heißt es, ist die Revolution der Landwirtschaft bereits in vollem Gange. Künstliches Sonnenlicht, vollautomatisierte Bewässerungssysteme und keimfreie Räume sorgen für höhere Erträge, unabhängig von Jahreszeit und Schneckenbestand. Umso erstaunter bin ich, als beim Betreten des Agrar-Prototyps von alldem nichts zu sehen ist. Salatköpfe und Steckrüben wachsen in dunklen, mehrstöckigen Holzkübeln. "Hab ich selbst gezimmert", verkündet Kleinhans stolz und bewässert das Gemüse mit einer gewöhnlichen Gießkanne. Er trägt Gummistiefel und Latzhose. Ich ahne, was hier gespielt wird: Die traditionell-ländliche Aufmachung, das Fachwerkgebälk und der Güllegeruch sollen den Green Tower nahbar machen für das deutsche Volk, das dem Eingreifen in die Natur für gewöhnlich kritisch begegnet.

Hier wird an alles gedacht. "So, dann fahren wir mal rauf. Dumm rumstehen könnse auch woanders!" lacht Kleinhans. Herrlich, wie er, das Mastermind hinter dem Projekt, den einfachen Bauern gibt! Auf den nächsten Etagen sehe ich im Ventilatorenwind wallende Getreidefelder und einen mehrstöckigen Hühnerstall. Ich nehme Platz auf einem Strohballen, Kleinhans setzt sich auf den umgeschnallten Melkschemel und stopft sich eine Pfeife. "Als das Land Hessen mich über das Programm und die Förderung informiert hat, hab ich sofort zugeschlagen", erklärt er und deutet mit der Pfeife auf mich- „Ein Bauer riecht, wo das Schwein scheißt.“ Geschickt nimmt Kleinhans mit seiner zwanglosen Art dem aberwitzigen Bau die Bedrohlichkeit. Ich möchte mehr von ihm wissen, spreche ihn auf die Simulation natürlicher Bedingungen und die Ertragmaximierung in Zeiten der fortschreitenden Liberalisierung der Märkte an. "Ja, ja", antwortet Kleinhans unbeeindruckt. Er weiß um die Tragweite seines Plans.

Plötzlich ein lautes Krachen über uns. Ein Kurzschluss im System? Ein Defekt des Computers? "Scheiße nochmal!" faucht Kleinhans. Ich folge ihm die rostige Leiter hinauf ins nächste Stockwerk. Geht es nun in die Schaltzentrale des Green Towers? Leider nein. Der Lehrling ist beim Wendemanöver mit dem Traktor umgekippt. Zwei stehen daneben und lachen. "Besoffen seid ihr doch!" keift Kleinhans und schlägt ihnen mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. "Zu nix zu gebrauchen!" Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, man hätte es mit einem Haufen Schwachmaten zu tun. Mir wird schwummerig. Der Raum scheint sich zu biegen. Nein, er biegt sich tatsächlich. "Die weiteren Stockwerke haben wir letzte Woche draufgemacht", beantwortet Kleinhans meinen skeptischen Blick auf die morschen Stützpfeiler, von denen wir umringt sind. "Da kam der Schwager von der Irmi mit seinen Vettern Sven und Sven. Das ging ruckizucki."

Von der Decke tropft es. Es ist die Jauche, wie ich beim Erreichen der nächsten Etage feststelle, in der Frau Kleinhans knöcheltief steht und fröhlich pfeifend eine Kuh besamt. "Das ist meine Daisy", sagt Herr Kleinhans und krault ihr stolz das Fell. Seine Frau drückt mich zur Begrüßung an ihren Busen, ohne den frisch verwendeten Besamungshandschuh vorher abzustreifen. "Na, wollnse mit anpacken? Den Arm tief in die Kuhmös' rein, so machen wir die Kälberlein", lacht sie und ehe ich mich versehe, wird mir einer der langen Plastikhandschuhe übergezogen. Wo zur Hölle sind die programmierten Besamungsroboter, von denen ich gelesen hatte? Doch ich habe Glück: Erst vernehme ich ein Knacken, dann reißt der Boden unter meinen Füßen auf. Wenig später lande ich auf einem Misthaufen. Das Gemenge aus Tierschreien, Gelächter und Jauche erlaubt es mir, unbemerkt zu entkommen.

Draußen halte ich noch einmal inne, um ihn zu betrachten, den Green Tower 39. Seine Funktionsweise wird mir vorerst wohl ein Rätsel bleiben. Doch der Gestank, den ich mit mir trage – da bin ich mir sicher – ist der Gestank der Zukunft.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg