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Klamotten und Geschlechtskrankheiten – Kleiderkreisel sagt Tschüss
Schicksalstage einer Ramschkiste: Kleiderkreisel bekommt einen neuen Namen. Grund genug, einmal auszumisten, um dem Erfolgsrezept von Kleiderkreisel auf den Grund zu gehen.
Eine Idee, so einfach wie revolutionär: Kleidung, die Menschen nicht tragen, tragen andere Menschen. Kleiderkreisel ist Europas größte Plattform für Secondhand-Artikel und fragwürdige Schuhmode. Hier müssen Sie sich nicht rechtfertigen, was sie mit diesen schrecklichen orangen Hosen wollten. Kleiderkreisel war seit jeher der Ort des Trostes und Verständnisses für Fehl- und Frustkäufe jeglicher Art. Doch wer sind die Menschen, die hinter Kleiderkreisel stehen? Ihre Geschichte zeugt von Vertrauen und Entdeckergeist. Es ist eine Geschichte voller kleiner Überraschungen. Fast so wie ein Sweatshirt, in dessen Innentaschen der Vorbesitzer ein Busticket nach Wuppertal und eine leere Kondompackung vergessen hat.
Ein Wintermorgen an einem Sonntag im Herzen von Vilnius. Der Tag ist jung, doch die Luft ist verbraucht. Die Szene zeigt die Überbleibsel der Nacht. Milda Mitkute und Justas Janauskas wachen verkatert und schlaftrunken auf einem Berg von Säcken voller Kleidung auf. Da liegen sie nun. Einfach so. Unter ihnen ihre abgelegen Wegbegleiter. Hand in Hand hätten sie tagelang unter diesem Eindruck einfach nur dagelegen. Sie befühlen die Stoffe, kuscheln sich ein und wollen nicht gehen. Das Entdecken eines Kotzeflecks auf ihrer alten Daunenjacke sollte für Milda Mitkute der wohl prägendste Moment ihres Lebens werden. Sie tauscht kurzerhand die befleckte Jacke gegen eine noch fast ungetragene. Ihr Zustand ist sehr gut, zu klein gekauft, nur einmal getragen, Neupreis 180 Euro. Janauskas und Mitkute beeindruckt das zutiefst. Noch wissen sie nicht, wohin sie dieser Morgen führen wird. Als sie den Ort voller Empfindungen und noch junger Erinnerungen verlassen, sind sie nicht nur neu eingekleidet. Nein, sie sind erwachsen geworden, haben sich neu erfunden, sind neue Menschen.
Ihre Wege trennen sich. Janauskas beginnt ein neues Leben als normaler Mensch. Unterdessen rennt und rennt Mitkute auf der Suche nach Sinn. Sie schreit voller Verzweiflung in den Wind (eines der Worte soll laut Augenzeugen "Bügel-BH" gewesen sein), genießt ihre neue Freiheit und lebt einige Jahre in einem Altkleidercontainer. Da sie die Schicksalsnacht immer noch nicht vergessen kann, nimmt sie all ihren Mut zusammen. Das Münzgeld für den Anruf hatte sie jüngst in der Tasche einer Hose gefunden, die vorher einem Fremden gehörte. Sie wählt. Es klingelt. Am anderen Ende ist ihr alter Freund Justas Janauskas. Unter Tränen erzählt sie ihm von ihrer Idee. Janauskas fühlt genauso und so gründen die beiden in einer klaren Mondnacht des Jahres 2012 Kleiderkreisel. Schnell überzeugt das Konzept eine Vielzahl junger Menschen. Sie alle lassen sich vom Malstrom der Used Economy mitreißen. Die Seite wird schnell mehr als nur eine Klamottenramschbörse. Sie wird eine Bewegung. Die Menschen tauschen, verkaufen, stöbern, handeln, wuseln und speichern Favoriten ab.
Doch Kleiderkreisel ist so viel mehr als ein extrem umständlicher Weg, aus dem letzten abgetragenen Ranzlappen die letzten Cent zu wringen. Kleiderkreisel ist der Ort der sozialen Zusammenkunft. Hier finden Schuhe neue Besitzer*innen und Menschen Beratung, die nach ungeschütztem Sexualkontakt einen brennenden Schmerz beim Urinieren verspüren. Costumer-to-Costumer-Transaktionen erhalten durch Kleiderkreisel ihr menschliches Gesicht zurück. Menschlichkeit in all ihren Facetten. Kleiderkreisel ist der Ort, wo Menschen auf der Suche nach einer billigen Jeans Zuwendung finden. Zumeist junge Frauen ergreifen hier das Wort und schimpfen eine andere eine Hure, die soeben im Forum, dem Zentralorgan der Seite, gestanden hat, ihren Freund zu betrügen. Ganz im Sinne von Sokrates ("Wer weiß, was richtig ist, wird auch das Richtige tun. Für dich mach ich 5 Euro weniger.") werden junge Menschen hier von der Gemeinschaft des Kleiderkreisel-Forums aufgefangen und auf den richtigen Weg geleitet und neu eingekleidet.
War dies der Traum der beiden Gründer? Wir werden sie nicht fragen können, seit 2012 gelten beide als in der Accessoire-Abteilung von Kleiderkreisel verschollen. Die Suche nach einem schwarzen Schal trug sie fort in die fernen Welten eines unüberschaubaren Angebots an gebrauchten Stoffrechtecken. Irgendwo zwischen Seite 10 und 12 im Browserfenster müssen sie verloren gegangen sein. Eine junge Nutzerin behauptet gar, beim Verkauf eines vier Jahre alten Schals aus dem Hause H&M die Stimme von Milda Mitkute gehört zu haben. Von ähnlichen Ereignissen wird immer wieder berichtet. Wir alle haben schon eine enge Freundin oder eine liebgewonnene Arbeitskollegin an Kleiderkreisel verloren. Doch nun heißt es Abschied nehmen. Die letzten verlassen Kleiderkreisel. Ein Blick zurück, ein warmer und zaghafter Druck auf das App-Symbol. Das Doppel-K verschwindet. Ein Klicken. "Noch da?, Tauschst du? Nein? Hau ab, Bitch." Der Neuanfang beginnt auf Vinted. Bald wird niemand mehr sagen, sie habe etwas "gekreiselt". Was bleibt, ist die Hoffnung, dass der Hass, die Beleidigungen und die zerschlissenen Hosen auch hier weitergehen.
Jessica Ramczik