Inhalt der Printausgabe

Asyl! Asyl!

von Walter Boehlich

Erst haben sie uns erzählt, wir seien ein Volk ohne Raum, und entschlossen haben wir uns aufgemacht, die Grenzen des Reiches 500 Kilometer nach Osten zu verschieben. Kleindeutschland war uns nicht groß genug, aber es ging aus wie die Geschichte vom Fischer und seiner Frau, und am Ende waren wir ziemlich klein und überdies »gespalten«.

Dann taten wir so, als seien wir ein Raum ohne Volk. Kaum hatten wir die Sudetenösterreicher, die Rumäniendeutschen, die Ungarndeutschen, die Polendeutschen untergebracht und noch ein paar Millionen Deutsche aus der DDR willkommen geheißen, spielten wir Anreißer vom Rummelplatz mit unserem lockeren »Hereinspaziert, immer hereinspaziert!« und holten noch ein paar Millionen zu uns – diesmal »Gastarbeiter«, weil es halt bequemer war, Arbeiter zu importieren als Arbeit zu exportieren, bequemer und einträglicher.

Hat jemand gemerkt, daß es voller bei uns geworden ist? Ist es uns lästig gewesen? Sind wir erstickt? Waren wir zu viele geworden? Offenbar nichts von alledem, denn die einzige panisch Angst, die Besitz von uns oder den uns Regierenden ergriff, war die Angst vor den Folgen des Pillenknicks, die Angst, daß wir aussterben könnten, wieder weniger werden könnten. Weniger wurden wir auch, weil mehr starben als geboren wurden, weil wir unser Bestes taten, ein paar Gäste loszuwerden, als die Arbeit nicht mehr für alle langte, wie man so schön sagt. Und weil das so war, besannen wir uns auf unsere alten Tugenden, beschmierten die Mauern mit der Parole »Ausländer raus!«, bekamen entsetzliches Mitleid mit uns und eine neu-alte Angst, die Angst vor Überfremdung. Zwölf Jahre hatten wir alles getan, um die schon einmal verlorene Reinheit des deutschen Volkes zurückzugewinnen, waren richtige Herrenmenschen geworden, Bilderbucharier, offenbar alle blond, blauäugig, groß und schlank, hatten unsere Kelten eingeordnet, unsere Slawen eingeordnet, aus einem herrlichen Völkermischmasch wieder eine reine Rasse gemacht oder wenigstens an all das geglaubt, und plötzlich sollte es alles für die Katz gewesen sein und die deutschen Frauen ein Opfer von Italienern, Jugoslawen oder gar Türken.

»Man schließt mir die Asyle, niemand mag zu meinen Gunsten wenig Schritte wagen.«
Goethe, 1808

Vielleicht wären wir auch damit noch zurechtgekommen, dank unserer Integrationskraft und unserem Germanisierungswillen, wenn nicht der dumme Artikel 16 des Grundgesetzes uns einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Der ist klipp und klar und besteht aus kümmerlichen vier Wörtern. Das heißt, sein zweiter Abschnitt besteht aus ihnen: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Es steht wirklich da »genießen«, und als das geschrieben wurde, war es auch nicht höhnisch gemeint, sondern ziemlich aufrichtig.

Wohl möglich, daß der Parlamentarische Rat keine rechte Vorstellung von den Folgen dieses Artikels hatte und nicht ahnte, wie die Welt dreißig oder vierzig Jahre später aussehen würde. Aber es gab in ihm ein paar Leute, die selbst einmal Asyl gesucht hatten und sich noch erinnern konnten, wie das ist, wenn man politisch verfolgt wird. Ein paar hunderttausend Deutschen ist es damals gelungen, sich ihren Mördern zu entziehen. Sie haben sich über die ganze Welt verstreut, bis nach China, Australien, Neuseeland, überall hin, wo sie einen Platz fanden und ein Land, das bereit war, sie aufzunehmen, oft unter entwürdigenden Bedingungen, ohne Geld, ohne Arbeitsmöglichkeit, dem Elend preisgegeben. Viele von den Aufnahmeländern waren unendlich viel ärmer als das Deutsche Reich, die Staaten Lateinamerikas zum Beispiel, oder die kemalistische Türkei. Sie taten, was sie konnten, und manchmal mehr.

Gedankt haben wir ihnen das nicht, dafür aber nicht mit Vorwürfen gespart, weil die Schweiz ihre Grenzen ziemlich dicht machte, die Vereinigten Staaten sich sperrten, und am schlimmsten waren natürlich die Engländer, die die von uns vertriebenen Juden nicht nach Palästina einreisen lassen wollten. Das ließ uns unsere eigenen Untaten vergessen. Nur ein paar Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten sie nicht vergessen und setzten den Artikel 16 durch. Heute wird gern behauptet, dieser Artikel habe nichts mit Schuldgefühlen zu tun, keineswegs sei er eine Art Versuch, nachträglich Unrecht gutzumachen, aber die Protokolle sprechen dagegen. Der Kommunist Renner und der Sozialdemokrat Wagner, beide vor Hitler geflohen, haben gegen den späteren Außenminister Brentano darauf bestanden, daß kein Unterschied gemacht werde zwischen vermeintlich guten und schlechten Asylsuchenden. Sie wollten ein uneingeschränktes, von der eigenen Sympathie oder Antipathie unabhängiges Asylrecht und haben eine Mehrheit dafür bekommen. Renner ist noch einen Schritt weitergegangen und hat für die Asylsuchenden das Recht auf Arbeit eingeklagt.

Was wir aus diesem großmütigen Artikel gemacht haben, ist bekannt. Vom Recht auf Arbeit ist wenig übriggeblieben und vom Verzicht auf Sympathie oder Antipathie kaum etwas zu merken. Großmütig sind wir allenfalls den Feinden unserer Feinde gegenüber, nicht aber den Feinden unserer falschen Freunde. Zwar haben wir widerspruchslos die Tschechen aufgenommen, die nach dem Prager Frühling zu uns kamen, aber die Chilenen, die vor Pinochet flohen, haben wir uns standhaft geweigert. Wir haben es geschafft, aus dem Wort »Asylant« ein verächtliches Wort zu machen, und finden nichts dabei, die Asylsuchenden in Lager zu sperren, für Jahre, als wollten wir eine unselige Tradition fortführen. Die Grenzschützer, die Polizei, die Verwaltungen haben mehr Macht über sie als das Grundgesetz. Und als wäre das alles noch nicht genug, werden Ängste geschürt, wird mit falschen Zahlen operiert, wird die Änderung des Asyl-Artikels erwogen.

»Daß man aber im 20. Jahrhundert als politisch reifer Mensch und Demokrat überhaupt den Gedanken aussprechen kann, es sei notwendig, das Asylrecht einzuengen, das geht weit über mein Begriffsvermögen hinaus.«
Heinz Renner, 1948

Die Bayern, in der Praxis ohnehin am rigorosesten, sind am kühnsten. München ist wieder einmal die Hauptstadt einer Bewegung, einer schändlichen Bewegung. Es ist wohl kein Zufall, daß ausgerechnet der Abgeordnete Fellner dafür kämpft, den Artikel 16 in seiner bestehenden Form abzuschaffen. Fellner ist der Mann, von dem der Satz stammt, daß die Juden immer zur Stelle seien, wenn Geld in deutschen Kassen klingele. Das scheint ihn weder die Achtung seiner Partei noch die Achtung der Nation gekostet zu haben. Er ist ungeächtet nach wie vor Bundestagsabgeordneter und sorgt dafür, daß den Konservativen die Stimmen der Unbelehrbaren zufließen. Verständnis für Menschen, die – aus welchen Gründen immer – ihr Land, ihre Familien, ihren Besitz verlassen, kann man von ihm so wenig wie von seinem Parteivorsitzenden verlangen. Wer nie verfolgt worden ist, wer nie zu einer Minderheit gehört hat, sondern sich immer mit der Macht arrangiert hat, bis er selbst an der Macht war, für den sind die Gesetze der Humanität ein Fetzen Papier, mag seine Partei sich noch so lange christlich nennen.

Er wird an die niederen Instinkte appellieren, verächtlich von »Wirtschaftsasylanten« sprechen und verkünden, das Boot sei voll. Er wird verschweigen, daß die Bundesrepublik nicht an der Spitze der Aufnahmeländer steht, sondern so ziemlich am Ende, daß viel ärmere Länder, sei es in Asien, sei es in Afrika, unverhältnismäßig mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, und vor allem wird er verschweigen, daß das Flüchtlingselend in der Dritten Welt zu tun hat mit dem Reichtum der Industrienationen. Für ihn genügt der Behauptungssatz, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie sich das überhaupt noch aussuchen kann. Es will zur Gnade verkommen lassen, was ein Recht war.

Wo steht geschrieben, daß ein Land nie Einwanderungsland, aber immer Auswanderungsland sein darf? Wo steht geschrieben, daß immer die anderen die Deutschen aufnehmen müssen, die Deutschen aber ihr selbstverfaßtes Recht brechen dürfen, um keinen aufnehmen zu müssen? Europa ist im vorigen Jahrhundert voll gewesen von deutschen politischen Flüchtlingen, die Schweiz war voll von ihnen, Frankreich war voll von ihnen, Belgien war voll von ihnen, England war voll von ihnen. Und die anderen deutschen Auswanderer, jahrzehntelang im Jahresdurchschnitt 50 000 bis 100 000, die den Staub des deutschen Bodens von ihren Füßen schüttelten? Waren sie alle politisch Verfolgte? Oder wieviele von ihnen waren Wirtschaftsasylanten? So viele Millionen wie uns verlassen haben, wollen gar nicht zu uns, und von denen, die zu uns kommen, wollen keineswegs alle bleiben. Viele ziehen weiter, manche bringen sich um.

Man rechnet damit, daß rund 15 Millionen Flüchtlinge durch die Welt irren, von denen wir keine drei Prozent aufgenommen haben. Für uns ist das eine Katastrophe, an der wir uns unschuldig fühlen. Aber was ist die verglichen mit der Katastrophe, an der wir schuld waren? Allein in dem kleinen Europa sind nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe 25 Millionen Menschen vertrieben und umgesiedelt worden. Haben wir uns Gedanken darüber gemacht? Denken wir heute noch daran? Nein, wir denken an unseren Wohlstand und daran, daß es uns an nichts fehlen darf. Wir sind reich, um reich zu sein, aber gewiß nicht, um Gutes mit unserem Reichtum zu tun. Eher geben wir Milliarden aus, um die ganze Bundesrepublik in eine Festung zu verwandeln, eher rüsten wir uns zu Tode, als daß wir uns menschlich verhielten.

Wir, die wir Hunderttausende und Millionen gefoltert haben, leisten uns noch heute einen Verwaltungsgerichtshof und ein Bundesverwaltungsgericht, von denen der eine befindet, die Folter sei in der Türkei ein allgemeines Phänomen und also kein Asylgrund, und das andere verkündet, sie begründe das Recht auf Asyl nur insoweit, als sie über das hinausgeht, was die Bürger dort allgemein hinzunehmen haben. Wüßten die Flüchtlinge, wie wir sind, vielleicht kämen sie dann lieber nicht.

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt