Inhalt der Printausgabe
Tschüß, du lieber Schlecker!
Wenn ein Stück Heimat stirbt, ist das traurig, gleich, ob es sich um eine seltene Waldblume handelt, den Traditionsautomobilhersteller Maybach oder die gepflegte kleine Kneipe bei Ihnen um die Ecke. Nun hat es auch die Drogeriemarktkette Schlecker getroffen.
Ein Nachruf von Mark-Stefan Tietze
Für Millionen Kunden ist es ein Schock, für rund 30000 Beschäftigte die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Leibeigenschaft: Schlecker hat die Insolvenz angemeldet. Die einen fragen sich, wo sie künftig ihre Zahnbürsten herkriegen, die anderen, womit sie ihre dann bezahlen sollen – etwa mit, wie heißt das noch mal, »Geld«? Als Mitarbeiter bei Schlecker haben sie so etwas nie kennengelernt.
Dabei kann das Unternehmen als solches vielleicht gerettet werden. Wenn aber die meisten Filialen geschlossen und fast alle Beschäftigten freigelassen werden, ist das nicht mehr »der Schlecker«, wie wir ihn über Jahrzehnte hinweg kannten: der Drogeriemarkt mit dem dichten Filialnetz und den für einen Discounter verblüffend phantasievollen Preisen. Für Schleckers treueste Kunden bedeutet das: Wer nicht gut zu Fuß, sprich: alt, krank oder schon sehr betrunken ist, muß für eine Flasche WC-Reiniger und ein paar Dosen Pils demnächst wieder einen halben Tag durch die Gegend humpeln.
Denn für sie hatte Schlecker die Funktion des kleinen Tante-Emma-Ladens von nebenan übernommen, war die letzte gute Seele jedes Stadtviertels. Die Kette war sich nicht zu fein, ihre vollgerümpelten Zelte an den abgelegensten und kaputtesten Orten aufzuschlagen. Ob sterbendes Arbeiterquartier, krasser sozialer Brennpunkt oder glitzerndes Frankfurter Bankenviertel: Wenn alle anderen Geschäftsleute ein Quartier bereits aufgegeben hatten, hielt Schlecker seine Ladentüren weiterhin sperrangelweit offen, ja, eröffnete sogar unverdrossen eine zweite, dritte oder vierte Filiale – natürlich in derselben Straße.
In Schleckers besten Zeiten sollen es allein in Deutschland zwischen 9000 und 19000 Filialen gewesen sein, vielleicht auch 100000 oder eine Million, niemand hatte mehr Überblick. Selbst in der Konzernzentrale war man viel zu beschäftigt mit der Suche nach immer neuen Filialstandorten, als daß man hätte nachzählen wollen. Wenn irgendwo ein Friseur- oder Handyladen Konkurs anmeldete oder in einem heruntergekommenen Viertel eine ebenerdige Wohnung zwangsgeräumt werden mußte, warteten vor der Tür schon die Leute von Schlecker, um Regale und Registrierkasse hineinzutragen und ihren berühmten blauen Schriftzug darüberzupinnen.
Der Siegeszug der Schlecker-Märkte hatte nach dem Krieg begonnen – weit nach dem Krieg, gut, aber Mitte der Siebziger hatten die Deutschen offenbar immer noch das dringende Bedürfnis, sich reinzuwaschen. Dieser zwanghaften Neigung nach porentiefer Hygiene und Keimfreiheit kam der Metzgermeister Adolf, pardon: Anton Schlecker entgegen, als er 1975 in Schwaben die ersten Drogerie-Discountmärkte des Landes eröffnete. Zum vorherrschenden Putzwahn lieferte Schlecker die passenden Reiniger, Scheuermittel, Desinfektionssprays und Möbelpolituren, dazu beseitigte der lustige Name gründlich jede Schwellenangst. Dank Schlecker war Sauberkeit kein Privileg der oberen Schichten mehr, nun konnte sie sich jeder leisten. Auch Arme konnten sich mit Seifen von Schlecker endlich waschen, und selbst unter ihnen, in den Achselhöhlen, roch es prima: nach Schleckers preiswerten Deodorants!
In den goldenen Zeiten der Bonner Republik waren die Läden mit dem blauen Logo so allgegenwärtig wie die gelben Telefonzellen der Post und fast ebenso geräumig. Und da sie in ihrem bis unter die Decke reichenden Angebot stets eine kleine Auswahl an Süßwaren, Fertiggerichten und Getränken führten, kamen neben bitterarmen Omis gern auch verhärmte Fachhochschulstudenten vorbei – zum Beispiel auf einen Plausch mit der blondierten Kassenkraft, die für jedermann ein gutes Wort hatte (»Moment! Bin im Lagerraum!«).
Wie die Telefonzellen im Stadtbild verlor jedoch auch Schlecker nach und nach an Bedeutung, erst schleichend, dann rasant. Da waren die ärmliche Anmutung der Filialen, die nackten Neonröhren, die schmuddeligen Tapeten und abgegrabbelten Theken. Da waren die halbleeren kunststoffbeschichteten Regale, vor denen sich die Kunden wunderten, warum ausgerechnet die billigen Eigenmarken immer »aus« waren. Da waren die Fernsehmonitore mit dem supernervigen Schlecker-Shopping-Kanal! Und da war die leidgeprüfte Angestellte im fleckigen Kittel, die… Moment… gerade war sie doch noch an der Kasse, jetzt anscheinend wieder hinten im Lagerraum… na ja, jedenfalls prinzipiell immer nur die eine einzige Angestellte, die es auch mittellosen Menschen jederzeit möglich machte, sich die Taschen mit Rasierklingen und Eau de Parfum zu füllen.
Mit Schlecker verschwindet aber nicht nur ein weiteres Stück Straßenromantik, sondern auch eine der letzten Nischen proletarischer Arbeitswelt. Hier wurde noch richtig rangeklotzt, wurde hart geschuftet wie in den Stahlwerken von Manchester oder den Schlachthöfen von Chicago. Dafür bürgte Seniorchef Anton Schlecker persönlich, ein Urgestein vom Schlage eines Franz Josef Strauß, nicht nur was Charakterstärke und Angriffslust betrifft, sondern auch in puncto Aussehen und Vorstrafenregister. Daß er seine Angestellten jahrzehntelang zur Mäßigung ihrer Ansprüche bewegte wie ein guter Vater, dem hin und wieder auch mal die Hand ausrutscht, ist gewiß nicht unumstritten gewesen. Andererseits: Nur so konnte Schlecker in Deutschland 30000 Menschen Arbeitsplätze bieten. Hätte er reguläre Löhne gezahlt, wären es vielleicht nur 1000 gewesen!
Bei Schlecker wußten Kunden wie Dienstleister stets: »Dankbarkeit macht das Leben erst reich« (D. Bonhoeffer)
Genau dieser Geist der Großzügigkeit wurde Schlecker aber zum Verhängnis. Um seinen Angestellten teure Miete zu sparen, versteckte er die Filialen immer öfter in Hinterhöfen oder Tiefgaragen. Die Kunden suchten manchmal stundenlang nach ihnen. Die Schaufensterscheiben verdreckten, weil die Fensterputzer nicht mehr mit Peitschenhieben angespornt, sondern plötzlich nach Tarif bezahlt wurden. In den feuchten, dunklen Läden gediehen Schimmel- und Fußpilz. Die Insolvenz kommt deshalb vielen wie eine Erlösung vor, vor allem den Pilzen. Die Gewerkschaften haben gesiegt.
Irgendwann war allerdings auch die Konkurrenz mit ihren ökologischen Wellneß-Tempeln zu stark geworden. Rossmann und DM beschäftigen in ihren hellen marmorverkleideten Ladenlokalen mit extrabreiten Gängen ausschließlich ehemalige Waldorfschüler mit geringem CO²-Ausstoß, die systematisch überbezahlt werden. Schlecker dagegen taugt mittlerweile nur noch als Bollwerk gegen die Gentrifizierung.
Das Problem ist: Die großen, umsatzstarken Drogeriemärkte neuen Typs finden sich nur in den besten Lagen wohlhabender Städte. Auf dem Land und in den Problemvierteln aber beginnt es plötzlich wieder nach Schweiß und Armut zu riechen. Was machen die Leute dort, wenn sie ein Stück Seife brauchen oder mal auf jemanden hinabschauen wollen? Wohin sollen sie gehen, wenn es Schlecker nicht mehr gibt?◼