Inhalt der Printausgabe

In Krisenzeiten hat Hochprozentiges Konjunktur. Davon profitiert gerade in Superwahljahren nicht nur die Spirituosen-, sondern auch die Meinungsforschungsindustrie. An ihren Umfrageergebnissen berauscht sich derzeit die halbe Republik (die andere Hälfte trinkt weiterhin Schnaps). Doch wo kommen sie eigentlich her, die ganzen Zahlen und Prozente? Und was bewirken sie – außer grundlosen Hochgefühlen und heftigen Abstürzen, gewalttätigen Auseinandersetzungen, Kopfweh und Depression?

 

Ein Mittwochmorgen im März: Angela Merkel knabbert auf dem Weg ins Kanzleramt an einem Wurst-Wrap herum, Franz Müntefering speichelt im Willy-Brandt-Haus einen Marmeladen-Bagel ein – da kommen die Zahlen übers Telefon herein. Die Zahlen der aktuellen Sonntagsfrage! Von Forsa im Auftrag des Stern ermittelt! Schock für die Kanzlerin: Ihre persönlichen Umfragewerte steigen ins Unermeßliche, die ihrer Partei dagegen sinken auf den tiefsten Stand seit 1928. Freudentaumel bei Müntefering: Seine SPD hat schon wieder einen halben Punkt zugelegt, allerdings wird Spitzenkandidat Steinmeier von Tag zu Tag unbekannter.

Sofort wird gehandelt. Müntefering läßt seinen Steinmeier ab sofort ein Namensschild tragen und per Video-Blog ein Internetverbot für Banker fordern, wie es 74 Prozent der noch unentschiedenen Wahlberechtigten befürworten. Merkel dämpft ihre für den jetzigen Zeitpunkt gefährlich guten Sympathiewerte durch halsstarriges Schweigen vor der Bundespressekonferenz und treibt so weitere 31 Prozent des Mittelstands vorübergehend in die Arme der FDP. Neue Koalitionsmodelle werden berechnet, neue Gesetze angekündigt, neue Wahlkampfexperten gefeuert, neue Wurst-Wraps gerollt und neue Marmeladen-Bagels geschmiert. Es ist der helle Wahnsinn: Die im Laufe des Tages beim Wahlvolk ankommenden Zahlen stoßen bereits auf eine völlig veränderte politische Wirklichkeit.

»Ja, es ist ein Problem, daß die Politik auf unsere Zahlen inzwischen schneller reagiert, als wir sie verbreiten können«, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner nachdenklich. »Natürlich nicht für uns – wir bestehen auf Vorkasse.« Der 67jährige gilt als bekanntestes Gesicht der Demoskopie, als Enfant Terrible seiner Zunft, das auch unbequeme Wahrheiten nicht scheut: »Die SPD muß die Mitte zurückerobern«, »Die Union muß wieder auf marktwirtschaftliche Vernunft setzen« und »Mein neuer Nerzmantel war so teuer wie die Dienstwagen von Merkel und Müntefering zusammen«.

Anders als die Chefs der anderen Institute, die sich hinter Akribie, Methodenwahn und Statistikfetischismus verschanzen, weiß Güllner, worauf es ankommt: »Wahlen sind spannend. Für die meisten zu spannend. Man kann es nicht abwarten, will alles schon vorher wissen – so wie die Leute, die im Advent alle Schränke nach Weihnachtsgeschenken durchsuchen oder die Handys ihrer künftigen Expartner nach verräterischen SMS.«

Weiß Güllner, daß er damit die Realität nicht nur beschreibt, sondern manipuliert? »Klar. Unsere Aufgabe ist praktisch die von Privatdetekteien. Wir liefern Stoff, über den man sich den Kopf zerbrechen oder das Maul zerreißen kann. Oder wir sorgen für eine Scheidung mit viel schmutziger Wäsche, ganz wie der Auftraggeber es wünscht.«

So brüstet sich das aufsässige SPD-Mitglied Güllner gerne damit, den Sturz von Kurt Beck eingefädelt und das Abdriften der Sozialdemokraten nach Linksaußen verhindert zu haben. »Die Zahlen für die Partei haben sich seither zwar nicht wesentlich erhöht«, räumt er ein. »Aber sie sehen jetzt besser aus, finden Sie nicht?«

Und weil es ihm nicht so sehr um die nackten Daten geht, sondern um deren öffentliche Interpretation, hält Güllner auch nichts von den immer ausgefeilteren Erhebungsmethoden der Konkurrenz. Lachen muß er z.B. über die Forschungsgruppe Wahlen, die neben ihrem bekannten Politbarometer eigens für die heiße Wahlkampfphase gerade ein Politthermometer entwickelt: »Pfff – das können die sich sonstwohin schieben!«

Die wichtigsten Umfrage-Institute

Allensbach: Das 1947 gegründete Institut für Demoskopie Allensbach setzt in der Politikforschung hauptsächlich auf bewährte Prognoseinstrumente (Hühnerbeine, Kristallkugeln). In Ausnahmefällen geht auch mal einer raus und fragt auf der Straße nach (Weg zum Bahnhof, Wetter).

 

Forsa: Über die Grenzen Berlins hinaus gefürchteter Thinktank. In der Hand von Politikpapst Güllner wird ein einfacher Taschenrechner zur tödlichen Waffe, jedenfalls für die Kommunisten im Parteienspektrum, die er gnadenlos kleinrechnet. Arbeitsschwerpunkte: Verteidigung von Freiheit und Marktwirtschaft, Zwangsvereinigung von SPD und FDP.

 

Forschungsgruppe Wahlen: Wird vom ZDF finanziert und von Bettina Schausten mithilfe aufwendigster Video- und Animationstechnik moderiert (»Politbarometer«). Kostet den Gebührenzahler also eine schöne Stange Geld, sieht dafür aber auch sehr gut aus (Bettina Schausten).

Infratest dimap: Bekannt durch die ARD-Wahlberichterstattung. Beschäftigt weltweit mehr als 14000 Mitarbeiter in über 70 Ländern sowie den leistungsstärksten Computer dieses Planeten, der sogar Präferenzen für Parteien abfragt, die es noch gar nicht gibt (PDU, UPS, SCP, »Die Digitalen«).

Innovative Meinungsforschung sieht für Forsa eben anders aus. Im Auftrag der Freidemokraten erkundet das Institut soeben neue Wählerpotentiale beim abgehängten Prekariat. 1004 repräsentativ ermittelten Unterschichtlern wird dazu ein Wahlplakat vorgelegt mitsamt der Frage: »Könnten Sie sich vorstellen, FDP zu wählen, wenn die Partei ihren Spitzenkandidaten als ›Sido Westerwelle, der Mann mit der (Gurken-)Maske‹ präsentierte?« Erste Probeläufe ergaben, daß von den 8 Prozent der Befragten, die die Frage überhaupt verstanden, knapp zwei Drittel sich derartiges durchaus vorstellen könnten. Hervorragend!

Doch die ganz große Herausforderung, das weiß auch Güllner, bleibt die Bundestagswahl im September. Hier gilt es nicht nur, die Konkurrenz von Allensbach bis Emnid auszustechen, sondern auch, einen so fürchterlichen Flop wie im Jahr 2005 zu verhindern, als alle Umfragen und Prognosen vom tatsächlichen Wahlergebnis um etwa 5 bis 50 Prozent abwichen und Adenauer vorschnell zum Kanzler erklärten.

Und so laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Schlangenweise stehen die angeworbenen Telefoninterviewer auf den Fluren des Instituts, bereit zur Schnellschulung für die gigantische Studie »Wie tickt Deutschland vor der Wahl?«. Umfragebögen stapeln sich in den Gängen, Zufallsgeneratoren werden angeworfen, Menschen verkabelt, Stimmen geölt, Wohnungen verwanzt. Durch die Luft des institutseigenen Callcenters gellen bereits die Fragen, die die politische Zukunft des Landes bestimmen werden: »Wer, wann, wo, wieviel?«

Ist das noch gesunde Neugier oder ist es schon – Wahn?

Die aktuellen Zahlen: Jeder dritte Wahlberechtigte hat inzwischen Angst vor Meinungsumfragen, jeder Fünfte geht deshalb schon nicht mehr ans Telefon. Knapp 62 Prozent haben den Eindruck, daß Demoskopen »im Prinzip wie die Stasi« arbeiten und einem »nicht nur die Haare, sondern auch intime politische Geständnisse« aus der Nase ziehen wollen. Wiederum 89 Prozent von ihnen fürchten deshalb berufliche Nachteile, der Rest weder Tod noch Teufel.

Was sie alle gemein haben: Wie sonst im täglichen Leben auch lügen sie wie gedruckt, sind wankelmütig oder schlimmer noch: von taktischen Überlegungen gelenkt. Wie ein ständig befragter Anonymus bekennt: »Ich sag’ dann am Telefon, daß ich SPD wähle, aber nur, um die CDU anzuspornen, sich noch mehr ins Zeug zu legen. Und am Ende wähle ich dann aus Protest mal NPD und mal Grüne, damit sich die Arschgeigen so richtig wundern.«

Mit diesem Problem werden die Parteien im Wahljahr 2009 zu kämpfen haben. Die Gruppe der Wechselwähler und Unentschiedenen wächst, die der Nichtwähler explodiert – z.T. vor Wut. Sie entscheiden in allerletzter Sekunde, kurz vor dem Wahllokal, lieber einen trinken zu gehen, oder zerbrechen noch in der Wahlkabine den Bleistift, um es den verhaßten Politikern einmal so richtig zu zeigen. Daß auch die Meinungsforschung von solchen Leuten nichts zu erwarten hat, sollte jedem klar sein. »Die entscheidende Sonntagsfrage«, motzt ein Wahlverweigerer, »wird ja sowieso nicht gestellt. Dabei wollen wir alle einen zweiten Sonntag pro Woche – unbedingt!«

Ein Donnerstagmorgen im März: Angela Merkel mümmelt in ihrem Büro an einem Marmeladen-Bagel herum, Franz Müntefering bekleckert sich gerade mit dem Senf aus einem Wurst-Wrap – da kommen die Zahlen übers Telefon herein. Die neuesten Zahlen! Die Zahlen von Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend! Die wahlentscheidende Gruppe der arbeitslosen Banker ohne Internetanschluß läuft demnach geschlossen von der SPD zur Linkspartei über; Angela Merkels Beliebtheitswerte bringen die Union an den Rand der Selbstauflösung.

Es muß gehandelt werden! Sofort!

 

Rürup (33%)/ Tietze (67%)

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg