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Wie tot ist das Kino? Zu Besuch auf der Berlinale
Wie geht es dem Kino? Tut es nur so, als liege es im Sterben, so wie die vernachlässigte Großmutter, die einfach möchte, dass mal wieder jemand nach ihr sieht? Oder ist sein Zustand wirklich so kritisch, wie es uns glauben machen will? Klarheit schafft ein Besuch der Berlinale.
Wer ins Kino gehen will, muss zunächst nach draußen. Wie früher die Höhlenmenschen. Ein Gedanke, der dem Homo Digitalis fremd ist. Er kuckt den ganzen Tag nur Pornos im Internet und dazwischen Netflix. Deshalb haben die deutschen Kinos im vergangenen Jahr so wenig Karten verkauft wie seit 1992 nicht mehr. Zieht man die Zahl der Tickets für Schweighöfer- und Schweiger-Filme ab, die bekanntlich größtenteils von den Produzenten selbst erworben werden, so zeigt sich, dass 2018 hierzulande so gut wie niemand im Lichtspielhaus war. Ein bitteres Zeugnis für die deutschen Kinomacher. Manche glauben, das Kino könnte sogar noch vor der Zeitung sterben – und das wäre superpeinlich.
Doch die Erben Leni Riefenstahls geben nicht auf. Das wichtigste deutsche Filmfestival findet gerade zum 69. Mal in Berlin statt: die Berlinale. Zum ersten Mal läuft in diesem Jahr auch eine Netflix-Produktion im Wettbewerb. Kritik daran äußert die "Arbeitsgemeinschaft Kino", ein Netzwerk unabhängiger gewerblicher Kinos in Deutschland. Filme müssten ihrer Ansicht nach immer zuerst auf der großen Leinwand zu sehen sein. Den Kapitalismus interessiert diese Meinung nicht.
Für Dieter Kosslick ist es das achtzehnte und zugleich letzte Festival als Direktor. Den schweren Zeiten zum Trotz macht er den Kinobetreibern bei seiner Eröffnungsrede Mut: "Die Streamingdienste sind vielleicht günstiger! Und flexibler! Und sie haben vielleicht auch das bessere Angebot! Aber kriegt man zu Hause vor dem Laptop etwa auch eine kleine Tüte Popcorn für 7,50 Euro?" ruft er in die Menge, die sich ihm zu Ehren erhebt wie Kinobesucher, sobald der Abspann beginnt.
Schaut man sich auf der Berlinale um, macht zumindest die deutsche Filmbranche in der Tat keinen guten Eindruck: Iris Berben, Hannes Jaenicke, Katja Riemann, Devid Striesow. Sie alle schleppen sich lächelnd über den roten Teppich. Doch wer genau hinsieht, sieht auch ihren Schmerz. Rücken, Knie, Gesicht – nichts ist mehr, wie es einmal war. Alles wie immer nur bei Moderatorin Anke Engelke: Niemand weiß, ob sie betrunken oder einfach so ist.
Das Herz des Festivals bleibt neben der zu begaffenden Prominenz aber selbstredend der Wettbewerb, in dem in diesem Jahr 17 Filme konkurrieren. Das Motto: "Das Private ist politisch". Hier gehen die Meinungen allerdings auseinander: Auf das geschäftliche Treiben ihres Ehemannes angesprochen, vertritt Filmikone Veronica Ferres die Ansicht, dass das Private doch wohl vor allem privat sei.
Eine wesentliche Neuerung nach dem Kinokrisenjahr: Erstmals werden auf der Berlinale weder ein Goldener noch ein Silberner Bär verliehen – aus Kostengründen gibt es stattdessen ein kleines Plüschbärchen samt Kinogutschein (bei 3D oder Überlänge: Aufpreis in Höhe von 4,00 Euro).
Von derlei Menetekeln lassen sich die von überallher angereisten Kritiker den Appetit jedoch nicht verderben: Gierig stopfen sie sich Gratisschinkenbrötchen in den Ösophagus, von denen sie in den kommenden Wochen bis zum nächsten Festival zehren müssen. Der Auftaktfilm "The Kindness of Strangers" ist einer der drei deutschen Wettbewerbsbeiträge und erfüllt alle Erwartungen: Er ist furchtbar schlecht. Das Drama erzählt von einer obdachlosen Familie in New York – ein origineller, selten gewählter Schauplatz. Kaum zu begreifen, warum die Branche in der Krise steckt.
Große Hoffnungen setzen Cineasten und Kinobetreiber hingegen auf das ebenfalls am Wettbewerb teilnehmende Regiegenie Fatih Akin: Seine Verfilmung des Bestsellers "Der goldene Handschuh" von Heinz Strunk könnte zum Publikumsliebling avancieren. Heinz Strunk selbst, der den Film schon gesehen hat, dämpft die Erwartungen: "Das Buch war besser", findet der 64jährige, der oft für älter gehalten wird.
Oberflächlich betrachtet leidet die Stimmung auf der Berlinale aber nicht unter dem Niedergang des Kinos. Allenthalben prostet man sich fröhlich zu, strahlt bis zum Erblinden ins Blitzlicht hinein und kokst auf dem Klo. Ob die Filme in Zukunft noch im Kino oder nur auf dem Tablet zu sehen sein werden, scheint die Darsteller- und Regisseurinnen kaum zu beschäftigen. Ein deutscher Schauspieler, der nicht namentlich genannt werden möchte, fasst die Lage auf der Berlinale hinter vorgehaltener Hand wie folgt zusammen: "Die 400 Filme, die hier insgesamt gezeigt werden, schaut sich doch sowieso kein Schwein an. Am Ende geht es vor allem ums Saufen. Ob mir jetzt Netflix, der Filmverleih oder die Öffentlich-Rechtlichen meinen Rausch bezahlen, ist doch echt mal scheißegal", so Lars Eidinger.
Cornelius W.M. Oettle