TITANIC Reportage: Ein Rausch der Sinne – die Welt als Synästhetiker
Töne riechen, Gerüche hören, Farben schnüffeln – all dies ist Alltag für Menschen mit der Diagnose Synästhesie. Die Synästhesie, eine genetische Disposition, die einzelne Sinnesreize derart verknüpft, daß es zu faszinierenden Wahrnehmungskopplungen kommt, ist jedoch vielmehr seltene Begabung als neuronale Störung. "Ich fühle mich beispielsweise oft richtig blau", erklärt der gelernte Maurer Herbert S. (47, Synästhetiker) seine wundersame Gabe, spricht im gleichen Zuge aber auch über Schattenseiten; etwa davon, nicht verstanden zu werden in einer Welt von normal Wahrnehmenden. "Wenn ich abends vom Büdchen komme, versteht mich meine Frau einfach nicht." Wo er Buchstaben, Satzstrukturen und gar komplexe Gedankengänge regelrecht vor sich sehe, nehme sie nach eigener Aussage nur primitivste Laute oder ein schwammiges Lallen wahr. "Das ist schon ein echtes Problem für unsere Kommunikation", erklärt Herbert S. besoffen betroffen. Wie ihm ergeht es vielen Synästhetikern, denn nur selten wird eine solche Veranlagung erkannt. Oft verhindern Falschdiagnosen eine richtige Einordnung der Symptome. "Meine Frau, mein Chef – alle meinten sie stets, ich hätte ein ernsthaftes Problem", hickst Herbert S. traurig. "Ssschweine!" Oft habe es Streit gegeben, zu Hause wie auch bei der Arbeit. Das sei so lange so weitergegangen, bis er eines Tages auf einen Artikel zum Thema Synästhesie gestoßen sei. "Bummm!" habe es da in seinem Kopf gemacht. Plötzlich sei ihm, Herbert S., alles "klar wie Obstler" gewesen. "Ich bin Synästhetisistiker... disss wußte ich dann sofort. Da ist mir auch erst mal ein Stein vom Kopf gefallen." Arbeiten gehe er nun nicht mehr, die Welt sei einfach noch nicht bereit für Menschen wie ihn. Dennoch sei das Leben um einiges erträglicher, nun wo er wisse, daß es an der Synästhesie liege, daß ihm das Gesicht seiner Frau stets wie rot vor Wut erscheine, und nicht an ihm.
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