Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Zwei Welten
Ein Land erleidet Schiffbruch, und was unserer Journalistik dazu einfällt, ist Schadenfreude: „Die Simon-Bolívar-Brücke ist 315 Meter lang und 7,30 Meter breit. Sie führt über den Rio Táchira, einen Fluß, der nicht nur zwei Länder trennt, sondern zwei Welten. Eine der vollen und eine der leeren Supermärkte, eine der satten und eine der hungrigen Menschen. Der Rio Táchira ist auch Reisgrenze, Mehlgrenze, Klopapiergrenze … Offiziell gibt es in Venezuela, einem der erdölreichsten Staaten der Welt, keine Warenknappheit und keinen Versorgungsnotstand, sondern nur einen imperialistischen Wirtschaftskrieg, der in Washington koordiniert wird. Tatsächlich kann man hier dem sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts bei der Selbstdemontage zusehen.“ Weil Venezuela nämlich das meiste, was es zum Leben braucht, importieren muß und der gefallene Ölpreis die Staatskasse geleert hat. Der Rest ist (sozialistische) Mißwirtschaft und ein neuerlicher Beweis für die Tatsache, daß weder Dachdecker (Honecker) noch Busfahrer (Maduro) ein Staatswesen sollten leiten dürfen. So einfach ist das.
Oder höchstens ein kleines bißchen komplizierter. Im Juni interviewte Konkret den lokalen Sozialwissenschaftler und Regisseur Dario Azzellini: „Der venezolanische Staat legt die Preise bestimmter Grundnahrungsmittel fest. Es gibt ein Gesetz, das nicht mehr als 30 Prozent Gewinn beim Lebensmittelverkauf zuläßt. Das ist den meisten Konzernen natürlich zuwenig. Und so wird von verschiedenen Großkonzernen massiv geschmuggelt, betrogen, abgezockt; Waren werden illegal gelagert, um sie dann an den Schwarzmarkt weiterzuverkaufen. Das ist ein Hauptgrund für die Knappheit und die explodierenden Schwarzmarktpreise.“ Zur selben Zeit war in der Zürcher Wochenzeitung über die Angriffe der Spekulanten zu lesen, die die Anleihen Venezuelas zu Schleuderpreisen kaufen und die Preise treiben: „Den ohnehin klammen Staatshaushalt hat diese Steigerung nach einer Berechnung … bisher 3,5 Milliarden Dollar gekostet … Zuletzt hat der venezolanische Präsident Nicolas Maduro im Februar den GläubigerInnen 1,5 Milliarden Dollar überwiesen – mehr als die 1,2 Milliarden, die er im ganzen Jahr für den Import dringend benötigter Medikamente ausgeben kann.“
„Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und ward nicht mehr gesehn.“ Goethe, 1779
Dieser Hintergründe ungeachtet wußte Springers Welt bereits im Frühjahr 2014 nach „tödlichen Schüssen auf die Demonstranten“ und „der Abschaltung von regierungskritischen Sendern“, daß Venezuela eine Diktatur geworden sei. „Sie hat in den letzten zwei Wochen mit Mord, Folter und Verhaftungswellen einen moralischen Absturz vollzogen, dessen langfristige Konsequenzen nicht absehbar sind. Viele Linke sind irritiert, können oder wollen nicht glauben, was sich in Venezuela abspielt.“ Noch einmal Azzellini, 2016: „Es gibt sehr starke und stetig wachsende Kritik, aber die meisten Linken unterstützen diese Regierung weiterhin, weil sie wissen, daß in Lateinamerika ein Regierungswechsel nicht einfach ein Regierungswechsel ist. Wenn dort die Rechte an die Macht kommt, dann ist damit zu rechnen, daß Hunderte, vielleicht Tausende von Aktivisten eingesperrt, ermordet werden oder verschwinden. Der Terror ist auch heute schon auf dem Vormarsch … In den US-Geheimpapieren zu Venezuela, die kürzlich veröffentlicht wurden, ist diese Destabilisierung erklärte Absicht.“
So sieht es aus, wenn Sozialismus sich selbst demontiert, und was immer hier nun stimmt oder nicht stimmt (wir können’s schlecht überprüfen), wird es doch so sein, wie es immer gewesen ist: daß Sozialismus nur gegen eine Welt von Feinden zu haben ist: gegen die Konzerne, gegen den Kapitalmarkt, gegen die Zeitungen, in denen Kolumbien plötzlich zum Paradies der Satten wird, nur weil Kapitalismus vieles nicht kann, aber eines bestimmt, die Läden füllen. Allerdings wäre Sozialismus, Rosa Luxemburg zu folgen, auch eher eine Angelegenheit von Produktion als von Verteilung; und das ist, wie auch unser linker Regisseur klagt, olle Chávez dann leider schnurz gewesen, „einen produktiven industriellen Apparat aufzubauen, der in der Lage wäre, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Seit in Venezuela Öl gefördert wird, ist das allerdings noch keiner Regierung gelungen.“
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