Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Papier ist ungeduldig
Daß „virtuelle Kriege“ die Zukunft bestimmen werden, ist ja vorhergesagt worden; aber ob gemeint war, daß der russisch-ukrainische Krieg im wesentlichen in der Berichterstattung stattfindet? „Ukraine fürchtet um ihren Osten“, „Der Westen bietet Putin die Stirn“, „wachsende Sorge“, „extreme Sorge“, „brandgefährliche Situation“, „schreckliche Angst vor einem Krieg“, dazu Liveticker auf wirklich allen Kanälen, als könnten sie es, im Schicksalsjubiläumsjahr 2014, gar nicht mehr erwarten, den öden Alltag aus Mietpreisbremse und Erdogans Twitterproblemen durch die russische Invasion abgelöst zu sehen.
In Wahrheit (und sofern sich das vom Schreibtisch aus beurteilen läßt) glaubt kein Ukrainer ernsthaft, gegen die neuen Herren auf der Krim (und die solide prorussische Bevölkerungsmajorität) Krieg führen zu können, und der Westen weiß, daß die Krim verloren ist, weshalb die Sanktionen neuerdings mit „wachsender Sorge vor einer russischen Expansion in den Osten und Süden der Ukraine“ (SZ) begründet werden bzw. der Furcht vor einem großrussischen „Korridor“, „von Abchasien über den Südosten der Ukraine bis nach Transnistrien“. Für den ukrainischen Interimspremier, den man gerne fragt und der sich gerne fragen läßt, ist im Interview „kristallklar, daß Rußland diesen Plan verfolgt. Es liegt auf der Hand, daß sie die Ostukraine wollen“, und wenn die (deutschen) Staatsmedien einen Osteuropa-Experten für das Gegenteil bürgen lassen, dann nicht hochöffentlich in einem „Brennpunkt“, sondern dezent auf tagesschau.de: „Die Ostukraine ist nicht die Krim. Dort gibt es eine ganz andere ethnische Zusammensetzung: Während auf der Krim etwa 60 Prozent ethnische Russen leben, ist der Anteil in der Ostukraine viel geringer. Das heißt, der Widerstand gegen Rußland wäre viel höher. Und die Ostukraine ist das Industriezentrum des Landes. Die dortigen Oligarchen hätten überhaupt kein Interesse daran, ein Teil Rußlands zu werden. Der Widerstand in der Wirtschaftselite wäre immens, denn die souveräne Ukraine schützt Unternehmen auch vor russischen Übernahmen.“
„Die Zeitungen bringen Unruhe und Hitze herein“ Nicolas Born, 1967
Andererseits hat die freie Westpresse, das hatten wir schon, naturgemäß kein Interesse, das Rembremerdeng um die russische Dampfwalze vor der Zeit abflauen zu lassen, und keine Mühe, immer noch irgendeinen russischen Dissidenten zu finden, der bereitwillig über den Putinschen „Wahnsinn“ lamentiert, mit dem das russische Volk auch gar nicht einverstanden sei, oder höchstens zu 70 Prozent. Im Hintergund läuft derweil alles so, wie es wohl laufen muß: Putin erreicht mit der Inbesitznahme der Krim sein strategisches Ziel, die Kernukraine wird mittels EU-„Partnerschaftspakt“, weil's ja nun eh schon egal ist (und die propagandistische Gelegenheit günstig), grimmig auf eine westliche Zukunft eingeschworen, und den Rest müssen (und werden) die lokalen Oligarchen entscheiden.
Das deutsche Publikum läßt sich derweil, wie Umfragen indizieren, vom nationalliberal-deutscheuropäischen Getrommel nicht in seinen antiamerikanischen, EU-skeptischen, dem starken Mann allemal seine Stärke honorierenden Instinkten stören, denn wenn es Europens Freiheit bedroht sieht, dann von der NSA. Aber das hat der „demokratische Faschismus“ (Gremliza) seinem undemokratischen Ahnen ja evtl. voraus: daß er seine freie Presse unbedingt, das Volk aber gar nicht mehr braucht. (Deshalb ja: demokratisch.)
Veranstaltungshinweis: Mehr zum Thema „demokratischer Faschismus“ darf im Rahmen einer Livesendung des Kritischen Sonntagsfrühstücks am nächsten Donnerstag, 27. März, im Frankfurter Café KoZ (Bockenheim, Mertonstr. 26) erwartet werden. Beginn 19 Uhr. Um demokratisches Betragen wird gebeten.
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