Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Neues aus der Haustadt
Diese Kolumne trägt ja den stillen Untertitel „Aus Deutschland und aller Welt“, und deshalb hier eine hübsche Posse aus den USA. Der Bürgermeister einer kleinen Universitätsstadt im Mittleren Westen gibt ein Interview und erklärt, er finde New York ganz furchtbar: Es sei ihm da zu laut und zu voll, in der U-Bahn rieche es, auch habe er da Obdachlose und Drogenkranke gesehen, und vieles sei kaputt. Schrecklich! Kaum wird das Interview bekannt, stürzt sich die gesamte New Yorker Presse …
Nein, Schluss, das ist so abwegig, dass es mir nicht einmal Spaß macht, diese Annahme als Witz auszuformulieren, der auch dann nur ein schlechter ist, wenn er gar keiner ist. Der Tübinger OB-Esel Palmer hat in einem Interview mitgeteilt, Berlin liege aus seiner Sicht nicht mehr im „funktionierenden Teil Deutschlands“, und weil Palmer so ein wichtiger Mensch ist und das Berliner Überlegenheitsgefühl so unerschütterlich, war, ich folge hier der Zusammenfassung der „Süddeutschen Zeitung“, presse- und twitterseits kein Halten mehr: „Wenn Du Metropole, Vielfalt, Tempo und Lebenslust nicht erträgst, kannst Du woanders die Kehrwoche zelebrieren“, meldete Palmers Parteikollegin und Wirtschafts- und Energiesenatorin mit dem schön berlinisch klingenden Namen Ramona Pop; der Regierende Bürgermeister Müller fühlte sich zu dem Hinweis verpflichtet, Berlin sei eine Vier-Millionen-Stadt („Wie oft soll ich’s sagen?“), die nun einmal ihre Probleme habe; die „Berliner Zeitung“ schrieb an den „lieben Boris Palmer“: „Was diese Stadt 40 Jahre ausgehalten und nach der Wende geleistet hat, ist außerordentlich, bis heute.“ Die „Morgenpost“ unterzog ihre Heimat sofort einem Faktencheck („Boris Palmer behauptet, dass in der Hauptstadt nichts funktioniert: Stimmt das?“), die „Taz“, die, wird’s dumm, natürlich keinesfalls fehlen will, empfahl dem schwäbischen Alternativ-Grünen: „... dann geh doch nach Paris!“ Der „Tagesspiegel“ gab eine fügliche „Antwort aus der Hauptstadt“ und frug Palmer, der aus derselben Ecke Deutschlands wie die Hälfte der Berliner Stadtbevölkerung stammt: „Spricht daraus am Ende die enttäuschte Liebe eines Freigeistes, der dem kleingeistigen Muff seiner Heimat gerne schon mit 18 nach Berlin entflohen wäre …?“ und stand nicht an, aus der Nichtigkeit eine Titelseite zu basteln, darauf ein Sektorengrenzenschild: „Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands.“
„Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker.“ Tucholsky, 1919
„Das ist dümmer, als nötig wäre“ (K. Kraus, Wien), und dass die spezifische deutsche „Hauptstadt“-Liebe Teil des nationalen Großdefekts ist, der in der Identifikation mit dem Oben, dem Zentrum, der Macht besteht, ist gelegentlich vermutet worden, und zwar, sehe ich recht, von mir, wobei, Moment, die Zürcher „Wochenzeitung“ es ebenfalls gemerkt hat: „Klügere Völker begegnen ihren Metropolen ja mit Skepsis, und die Nichtpariser Franzosen hassen Paris, wie die Nichtzürcher Schweizerinnen Zürich hassen, denn da sitzen, wie in jeder Zentrale, die Macht und die Arroganz. Zu Berlin sind der deutschen Illustrierten ,Stern’ hingegen innert drei Jahren die Jahrhundert-Titelzeilen ,Die Magie unserer Hauptstadt’ und ,Die coolste Hauptstadt der Welt’ eingefallen, weil in Deutschland alles Gute stets von oben kommt, und oben, das war Berlin, ist Berlin, bleibt Berlin.“ Und das war halt ebenfalls von mir. Muss man denn immer alles selber machen?
Kein Zweifel, dass aus derlei die enttäuschte Liebe eines Freigeistes spricht, der, statt dem kleingeistigen Muff seiner Heimat mit 18 nach Berlin zu entfliehen, lieber sein linksrheinisches Studentenappartement gestaubsaugt hat. Kein Zweifel aber auch, dass die Aufregung über ausgerechnet diesen Vorwurf, nämlich nicht zu funktionieren, kaputt zu sein, gar deviant, nicht Metropole, Vielfalt, Tempo indiziert, sondern jene Kehrwoche im Kopf, die im Vaterland überall dieselbe ist. (Ausnahme: Hannover. Hier ist schon auf der Straße keine.)
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