Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Hoch und höher
Daß es heute schon wieder um Hochbegabung geht, liegt daran, daß es ständig um Hochbegabung geht: Am selben Tag, da Bundeshalbbildungsministerin Wanka in Berlin ein „Pilotprojekt“ gestartet hat, das in der Schule wo nicht Crack, so doch Cracks fördern will: „In vielen Klassenzimmern aller Schulformen sitzen unerkannte Talente. Diese Schülerinnen und Schüler wollen wir frühzeitig entdecken und fördern“, und der Deutsche Philologenverband es präzisierend „begrüßte, daß Begabtenförderung zur Regelaufgabe in allen Schulformen, besonders im Gymnasium werden solle“ (Morgenblatt, Hervorhebung SG), tapezierte das Zentralorgan des zukunftsorientierten Bürgermilieus seine „Panorama“-Seite mit dem Besuch bei einer siebenköpfigen deutschen Bürgerfamilie, die komplett hochbegabt ist:
„Martin und Gudula Volbers … sitzen in ihrer Wohnküche in Havixbeck bei Münster und berichten mit leisem Stolz von ihren fünf Kindern, die alle auffällig intelligent sind. Max ist der Älteste … Der Bub sprach sehr früh in ganzen Sätzen und interessierte sich für Buchstaben. Er wirkte gewandter als andere in seinem Alter … Das Thema Hochbegabung kam ins Spiel … Das Unerklärliche kommt oft nicht gut an. Und wenn ein Fünfjähriger im Kindergarten Bücher vorliest, wie Max Volbers das einst tat, dann ist das für viele unerklärlich … Max langweilte sich in der ersten Klasse. ,Er fing an zu provozieren, was doof ist, wenn man der Kleinste ist’, erzählt Vater Martin Volbers. Erst als er nach den Herbstferien in die zweite Klasse wechseln durfte, entspannte er sich. Und als ihm die Schule wieder zu leicht wurde, entdeckte er das Instrument, das seine rettende Herausforderung wurde: die Blockflöte. ,Gott sei Dank’, sagt Martin Volbers.“ Auch der Zweitgeborene war schlecht in der Schule, Lese-Rechtschreibschwäche, bis der Intelligenztest wußte, der Junge „denkt schneller, als er schreiben kann“; heute macht er eine Mechatroniker-Lehre. „Jonathan, heute 19, war 16, als er einem Professor die Entstehung des Universums erklärte. Wie Max studiert er am Mozarteum in Salzburg Blockflöte. Theresa, elf, und Catharina, neun, haben für ihre Berufsentscheidungen noch etwas Zeit. Und Papa Volbers, 54, Software-Architekt, weiß seit neun Jahren, daß er selbst hochbegabt ist.“
Früher, als ich Kind war, waren Einstein und Bernd Schuster hochbegabt, und bei Einstein wußte jeder, daß der nicht mal gut in der Schule gewesen sei. Bei Einschulung konnte von 25 Kindern meistens eins schon lesen, das war Statistik, und es soll vorgekommen sein, daß diese Kinder trotzdem brav im Leseunterricht saßen und sich freuten, daß sie was konnten, was andere nicht konnten; das machte es einfacher, die Dinge nicht zu können, die andere konnten. Wer provozierte und mit Stühlen schmiß, galt noch nicht als hochbegabt, sondern als psychisch auffällig, und wer einem Erwachsenen das Universum erklärte, der hatte die „Was ist was“-Bände 6 („Die Sterne“) und 16 („Planeten und Raumfahrt“) so oft gelesen, wie das in dem Alter vorkommt. Später, im Studium, kannte ich eine, die hatte drei Klassen übersprungen, studierte Zahnmedizin und hatte sie nicht mehr alle, und bei TITANIC waren dann sowieso alle hochbegabt, wenn auch vielleicht nach anderen Maßstäben.
„Als erste Zeitschrift überhaupt stellen wir an dieser Stelle unseren Lesern die faszinierende ,Sidis-Methode' vor, die aus duchschnittlich intelligenten Kindern Hochbegabte macht.“ „This Week Magazine“, 1952, zit. n. Zehrer, „Das Genie“, 2017
Heute, verstehe ich recht, sind Familien durch die Bank hochbegabt, jedenfalls wenn sie in Havixbeck bei Münster wohnen und nicht im Hasenbergl von München. „Nur zwei Prozent der Bevölkerung besitzen diese Eigenschaft“, schränkt die Zeitung ein, „leider weniger, als die meisten Eltern denken“, wie sie einen Jugendpsychiater zitiert. Man darf annehmen, daß sich dieser Wert über die Jahrtausende stabil gehalten hat, aber heute tut sich „die Gesellschaft“ angeblich „schwer mit Hochbegabten“ (SZ), die deshalb in Asylen oder Wohnmaschinen am Stadtrand hausen wie alle, mit denen sich die Gesellschaft schwertut. Was statistische Normalität ist (und freilich mit der Grenze, jenseits deren eins hochbegabt ist, schwankt; früher waren das mal 140, heute sind’s schon 130 IQ-Punkte), wird als irrer, fast schon bemitleidenswerter Spezialfall herausgemeißelt, und daß die Supertalente in allen Schulformen sitzen, ist nicht mehr als ein Disclaimer.
Denn Bildung ist immer die distinktorische Hauptwaffe des deutschen Bürgertums gewesen, das Norbert Elias als „politisch völlig ohnmächtig, aber radikal im Geistigen“ beschrieben hat; wer nur Latein und nicht Griechisch konnte, war, wie sich bei Hans-Ulrich Wehler nachlesen läßt, schon ein Prolet. An der Ohnmacht hat sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, nichts Wesentliches geändert, und was Bildung heute sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wissen gibt’s im Internet. Bleibt: das Talent, die Hochbegabung, die, wichtig, bloß vererbt werden kann und inskünftig in Spezialschulen isoliert wird, die so klassendiskret werden, wie es die Gymnasien kaum mehr sind. Aber auch wenn einer von uns Mechaniker wird, dann, weil er schlicht zu intelligent fürs Abitur ist. Muß man erst mal drauf kommen; und kann man freilich, wenn man nur hochbegabt ist.
Und die Welt, in dialektischer Weisheit, stündlich dümmer wird.
◀ | Die Meldungen der Woche im Rückblick | Liste lustiger Nachnamen von ÖsterreicherInnen | ▶ |
Newstickereintrag versenden…