Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Die Freiheit, die sie meinen
An einem solchen Tag, wo man unausgeschlafen ist, Zahnweh hat und lustlos in die Gegend (und in die Zeitung) blickt, soll man sich auch mal freuen dürfen über Meldungen aus dem Vermischten, in welchen ja oftmals auch nicht weniger steckt als in den üblich hochbedeutsamen Strecken aus Politik und Feuilleton.
Im bayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen fährt im Frühjahr 2014 ein Notarzt mit seinem Notarztfahrzeug zu einem Notfall: Ein kleines Kind kriegt keine Luft mehr. Also fährt der Notarzt mit Blaulicht und Sirene, Abblend- und Nebellicht sowie Lichthupe zügig zu dem evtl. erstickenden Kind. Im Januar 2015 erhält der Notarzt dann einen Strafbefehl über 4500 Euro und sechs Monate Führerscheinentzug, weil ein Autofahrer ihn nach der Einsatzfahrt angezeigt hatte, wegen nämlich „Nötigung“. Laut Strafbefehl, berichtet der Bayerische Rundfunk, habe der Arzt „zwei entgegenkommende Fahrzeuge zum scharfen Abbremsen und Ausweichen aufs Bankett genötigt. Das sei als Straßenverkehrsgefährdung eingestuft worden, sagt die Staatsanwaltschaft in Ingolstadt.“
„Sie halten für individuelle Freiheit, was eigentlich nur asoziales Verhalten ist.“ Rühmkorf, 2008
Selbst wenn wir annehmen, ich muß an meinem Backenzahn nicht sterben und werde so alt wie meine Oma, nämlich 95 Jahre alt, und wenn wir weiter annehmen, ich wäre gegen Ende auch so verwirrt, wie Oma es war, fällt es mir doch schwer zu glauben, ich käme irgendwann, in irgendeinem körperlichen oder geistigen Zustand, mit oder ohne Zahnschmerzen, auf die Idee oder auch nur die Vorstufe zu der Idee oder auch nur die Ahnung einer Vorstufe zu der Idee, einen Notarzt im Einsatz anzuzeigen. Weil ich bremsen und auf den Seitenstreifen muß, wo man bekanntlich eh hingehört, wenn es hinter einem notärztlich bimmelt. Kein Unfall. Ich muß nur bremsen, meinethalben: in die Eisen. Nötigung. Anzeige.
„Die Schamferne ist eine äußerste“ (Eckhard Henscheid in anderem Zusammenhang), und selbst wenn ich mir als motorisierter Verkehrsteilnehmer resigniert die Frage sparen will, mit welchem Klammerbeutel der deutsche Autofahrer eigentlich gepudert ist, muß ich es doch mit dem Anwalt des Beklagten „für völlig unverständlich“ halten, „wenn ein Vertreter einer Staatsanwaltschaft und ein Richter ein solches Verfahren nicht sofort einstellen“, wegen Unbegründetheit und der barbarischen Idiotie marktkonformer Egozentrik, wo alles Gesellschaftliche, Rettende, Barmherzige sich rigoros dem eigenen Vorankommen (sic!) unterzuordnen hat, mit staatlicher Billigung noch im kleinen.
Von einer „Welle der Solidarität“ und 100 000 Online-Petitenten wußte der BR zu berichten, und trotzdem wollen wir den Fall, so wunderhübsch symbolisch er nämlich ist, einmal so stehen lassen, schon deshalb, weil es tags drauf in der Zeitung um Chr. Lindner und die mögliche Rückkehr seiner FDP ging, denn die Liberalen, rekapitulierte die SZ deren Programmatik, „kümmern sich um Erhaltung und Ausbau größtmöglicher Freiheit, die der einzelne für sich dann bestmöglich nutzen möge“.
Daß es dafür noch eine Partei braucht, ich will es mal bezweifeln.
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