Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Der Esel schweigt
Mag sein, es ist an dieser Stelle in jüngerer Zeit etwas häufig und geradezu leichtfertig von „Faschismus“ die Rede gewesen; aber ich bin ja nicht der einzige, der da so einen Verdacht hat: „Wenn Putin von den Feinden des russischen Volks spricht, denkt er grundsätzlicher, tiefer. Die Mächte, denen er den Kampf angesagt hat, trachten nicht nur danach, ihren Einflußbereich immer weiter nach Osten zu verschieben, sie greifen nach der russischen Seele … ein ideologischer Kampf, den Rußland aus Sicht seines Präsidenten kämpft: gegen die Oberflächlichkeit des Materialismus, gegen den Verfall der Werte, gegen die Verweiblichung und Verweichlichung der Gesellschaft, die mit der Auflösung aller traditionellen Bindungen einhergeht, kurz: gegen alles Unrussische … Putin ist nicht Postkommunist, er ist Postfaschist … Da ist der Körperkult, die pathetische Rhetorik der Selbstbehauptung, die Abwertung des Gegners als verkommen und degeneriert, die Verachtung der Demokratie und des westlichen Parlamentarismus, der übersteigerte Nationalismus … Man hat die Gesetzgebung gegen Homosexuelle in ihrer Bedeutung nicht richtig verstanden, als sie vor einem Jahr auf den Weg gebracht wurde. Heute sieht man, daß sich hier zum ersten Mal das neue Rußland zu erkennen gab … lupenreiner Faschismus.“
Nun müßte man sagen, der Jan Fleischhauer, der dem freiheitlich-demokratischen Affen hier auf Spiegel online Zucker gibt, hat ganz recht, wenn er nicht auf eine Weise halb recht recht hätte, die ihn schon wieder unrecht haben läßt, und nicht nur dann, wenn er sich zwischen „Faschist“ und „Postfaschist“ nicht entscheiden kann und einen Nationalismus insinuiert, der als nicht übersteigerter etwa vorstellbar wäre. Wer sich vor einem Vierteljahrhundert über die Implosion der Zweiten Welt, Putins vielzitierte Jahrhundertkatastrophe, so diebisch (sic) gefreut hat, soll jetzt nicht Überraschung heucheln, daß aus der UdSSR keine USA geworden ist (wofür die sich auch bedankt hätte), sondern eben jenes ewige Schwellenland, das sich gegen die ausbeutende Eine (ehemals: Erste) Welt nur mit autoritären Mitteln wehren zu können glaubt. Diesen klerikal grundierten, nationalistisch angemalten, intoleranten Kommandokapitalismus kann eins leicht faschistisch nennen, wenn man, in guter deutscher und westlicher Tradition, dessen defensiven Charakter ausblendet, wie sich auch nie wer die Frage stellt, ob der Stalinsche Kriegskommunismus ohne Krieg – erst den kalten des Westens, dann den heißen der Deutschen – einer hätte zu werden brauchen.
„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Horkheimer, 1939
Wer über russischen Faschismus und dessen antimaterialistisch-volksgemeinschaftliche Sendung spricht, der darf über den gleichfalls recht körperkultigen Kapitalismus westlicher Machart, dem die asymmetrische Verteilung seiner materiellen und ideellen Wohltaten eingeschrieben ist und der grad hierzulande neuerdings immerfort „wir“ sagt, allerdings nicht schweigen: „Bei den Freiheitsfeinden am rechten Rand haben sie die Witterung sehr viel früher aufgenommen. Hier hat man sofort verstanden, daß in Putin jemand zu Europa spricht, der ihre Zwangsvorstellungen und Ressentiments teilt. Putin revanchiert sich bei seinen Bewunderern, indem er sie als Verwandte im Geist anerkennt. ,Was das Überdenken von Werten angeht, sehen wir in Europa denselben Prozeß‘, sagte er in seinem Fernsehauftritt am vergangenen Donnerstag und verwies auf den ,Sieg von Viktor Orban in Ungarn‘, den ,Erfolg von Marine Le Pen in Frankreich‘.“ Und wieder unterschlägt der Fleischhauer (er wird dafür bezahlt), wo diese Faschismen wurzeln: Nicht in irgendeinem isolierten, korrupten, von Wirrköpfen bevölkerten Freiheitsfeindesland der Ewiggestrigen, sondern da, wo die Freiheit strukturell eine „Freiheit zur Feindschaft“ (Karl Kraus) ist und die Ressentiments der Depravierten (und zu Depravierenden) nur darauf warten, daß sie ein Orban, eine Le Pen oder ein Pirinçci kitzelt, dessen schwulen-, frauen- und ausländerfeindliche Tiraden im so wunderbar antifaschistischen Deutschland denselben reißenden Absatz finden wie die nazistischen Heimatfilmschnulzen, in denen Flugkapitäne, Karrierefrauen und andere heimatlose Figuren nach 90 Minuten auf die Scholle zurückfinden. Und man nimmt die „populistischen“ (SZ) Langohren nicht in Schutz, wenn man den liberalen Esel anzeigt, den von seiner Verwandtschaft nicht mehr trennt als die bessere Exportbilanz.
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