Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Auntie doesn't vote here anymore
Es ist tatsächlich Wahlkampf. Die Stadt ist mit Plakaten tapeziert, an jeder Nachrichtenecke wird man mit Sonntagsfragen behelligt, und aufgeklärte Journalisten lassen sich seitenweise dazu herab, Stefan Raabs Auftritt beim sog. „TV-Duell“ zu kommentieren, obwohl TV-Duelle und Stefan Raab ja eigentlich Quatsch sind und nicht der Rede wert.
Tante Margot geht auf die 70 und hat, alles andere würde mich überraschen, ihr Leben lang CDU gewählt. Von Politik mehr zu verstehen, als nötig ist, daß es für eine Runde „Anne Will“ reicht, würde sie nicht behaupten, sie hat einen mittleren Schulabschluß und war Hausfrau, und wenn sie mir, das läßt sie sich nicht nehmen, Geld zusteckt, dann nie ohne die leise Freude darüber, den „kommunistischen“ Neffen in die Verlegenheit zu bringen, an sozusagen Blutgeld teilhaben zu müssen. Ich als „Kommunist“ müßte ja wollen, daß sie, die ordentlich situierte Arztwitwe, enteignet wird! Und dann sage ich, daß ich als Mitglied einer kommenden Revolutionsregierung schon meine schützende Hand über sie halten werde, und dann ist das geklärt.
Tante Margot wählt nicht mehr. Wir haben gestern telefoniert, und sie hat mir aus dem Pflegeheim berichtet, in dem Oma Elsbeth sitzt und in dessen Angehörigenbeirat Tante Margot mitmischt. Vielleicht weil sie ganz gerne mitmischt, sicher aber, weil das Heim so unterfinanziert ist wie alle Heime, die nicht „Seniorenresidenz“ heißen, und Tante Margot gehofft hat, sie könnte dafür sorgen, daß ihre Mutter nicht trotzdem bei 30 Grad im Wollpullover herumsitzt, weil keiner Zeit hat, nach passender Garderobe zu suchen. Der Heimplatz für Oma kostet sagenhafte 3900 Euro im Monat, dafür gibt es drei Pflegekräfte für 60 Alte, die deswegen im Aufenthaltsraum mit ohrenbetäubender Schlagerradiomusik sediert werden, und sobald Tante Margot im Heim auftaucht, sind die Kräfte, verständlicherweise, froh, daß jemand ihre Arbeit mitmacht, und dann sitzt Tante Margot dreieinhalb Stunden bei der schreienden Oma und überlegt, Gregor Gysi zu wählen.
„If voting changed anything, they would make it illegal.“ Goldman, o.J.
Das hat sie mir so erzählt. Man muß sich das so vorstellen: Konrad Adenauer überlegt, Walter Ulbricht zu wählen. „Überrasch mich, Tante Margot“, muntere ich sie, vor Sensationslust platzend, auf, aber Tante Margot war's dann wohl doch nicht geheuer; sie hat den Wahlbrief „zerrissen“, weil sie nämlich die Schnauze voll hat, „das mit der sozialen Ungleichheit, das wird ja immer schlimmer“, ein Satz, der aus ihrem Mund so klingt, als beschwere sich Hans-Olaf Henkel über die Globalisierung. Auf dem Parkplatz meines Supermarkts hängt ein Plakat: „Du hast die Wahl“, wobei das „hast“ durchgestrichen und durch ein „bist“ ersetzt worden ist. Das Plakat sagt, daß Nichtwählen auch keine Lösung ist; es sagt aber auch, daß es dem Laden langsam unheimlich wird, wenn sich die Zahl der Nichtwähler US-amerikanischen Werten nähert. Daß Hartzer aus Sachsen-Anhalt nicht wählen gehen, schön. Aber daß Tante Margot aus bestem bürgerlichem BRD-Mittelstand nicht mehr geht? Weil selbst Tante Margot, die wahrscheinlich nicht aus dem Effeff wüßte, worin der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme besteht, aber immer eine treue Staatsbürgerin gewesen ist, sich über die Verfaßtheit und „Zukunftsfähigkeit“ (Merkel) dieser Gesellschaft keine Illusionen mehr macht?
Daß ich als „Kommunist“ unsere wunderbare Marktkonformdemokratie für illegitim halte, geschenkt. Wenn aber Tante Margot, die das Wort „illegitim“ noch nie benutzt hat, ihre Zweifel kriegt: warum dann nicht ganz offiziell die Postdemokratie ausrufen, mit Stefan Raab als Diktator auf Lebenszeit?
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