Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Alles muß raus
Zuerst die gute Nachricht. Die Hilferufe, die Kundinnen in Produkten der Billigtextilkette Primark gefunden hatten: „Gezwungen, bis zur Erschöpfung zu arbeiten“, „Erniedrigende Arbeit in einem Ausbeuterbetrieb“, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Fälschungen. „Primark hatte bereits am Donnerstag Zweifel an der Echtheit der angeblichen Hilferufe erkennen lassen und diese als ,sehr merkwürdig‘ bezeichnet. Unklar ist bisher die Herkunft der dritten Botschaft, die in Nordirland aufgetaucht ist. Dieser Fall werde derzeit noch untersucht, teilte das Unternehmen mit. Es handelt sich dabei um einen Zettel in einer Hose. Der unbekannte Autor gibt sich als Zwangsarbeiter in einem chinesischen Gefängnis aus. Er und seine Mitgefangenen müßten für Primark ,arbeiten wie die Ochsen auf dem Feld‘“ (FAZ). Die schlechte Nachricht mag sein, daß ich vorgestern in der Innenstadt einen Pulk (männlicher) Halbwüchsiger passiert habe, die alle mit Tüten der Billigtextilkette Primark ausgerüstet waren und die es freilich nicht kümmerte, ob irgendwelche Depraviertenkassiber „echt“ sind oder lediglich nicht von den Opfern der Billigtextilketten selbst stammen.
Es ist natürlich falsch, daß früher alles besser war, als es auch schon Marken gab und Turnschuhe drei Streifen haben mußten. Aus meiner Adoleszenz unbekannt sind mir allerdings Shoppingtouren unter Jungs, die Klamotten schätzen mochten, deren Beschaffung aber nicht als Unterhaltung begriffen hätten. Ein Menschenalter später ist Shoppen alters- und geschlechtsübergreifend Volkssport und Kleidung ein Wegwerfartikel, etwas, was man kauft um des Kaufens willen und das so billig ist, daß es gar nichts macht, wenn man es nur zweimal anzieht oder gar nicht. (Die Primark-Kundin hatte die Hose mit dem chinesischen Hilferuf „bereits im Jahr 2011 gekauft, sie seither aber nicht mehr zur Hand genommen“.) Heute werden dreimal so viele Kleidungsstücke erworben wie vor 20 Jahren, und es muß gar nicht über „Geschäftspraktiken“ lamentiert werden, wenn es doch obszöne (Wachstums-)Praxis ist, daß anderswo Menschen schlicht dafür leiden, daß bei uns die Leut' ihre Freizeit herumkriegen.
„Nicht wahr, er ist wahnsinnig! Ganz und gar wahnsinnig!“ Svevo, 1923
„Jedes Jahr ein neues Smartphone!“ wirbt die Firma Vodafone, die sich darauf verlassen kann, daß Warum? nur mehr eine Kinderfrage ist. Im ICE sitzt ein Mann neben mir, der so aussieht, als gehöre er zur bedrohten Mittelschicht, und kaum war er eingestiegen, hat er einen Tabletcomputer vor sich auf den Tisch getan, auf dem eine Zugfahrt lang Fernsehprogramm (oder Mediathek) läuft. Der Mann sieht die Hälfte der Zeit gar nicht hin, weil er, unter allerlei Sende- und Aktionsgeräuschen, auf seinem Smartphone herumfingert, das er jetzt jedes Jahr neu bekommt, während wir Rufer in der Mentalwüste auf die Wiederlektüre des Zeno Cosini zurückgeworfen sind: „Die Gesundheit nämlich analysiert sich nicht. Sie sieht nicht in den Spiegel.“ Oder höchstens in den Spiegel, der ja neulich, um ein Heft mit 200 Anzeigen zu verkaufen, mit der Schlagzeile „Konsumverzicht“ eröffnet hat.
Hat ja auch schon keinen mehr gekümmert.
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