Gärtners kritisches Ostersonntagsfrühstück: Im Gegenteil
Verändern tut diese Kolumne natürlich nie etwas, und es gilt, was Christine Nöstlinger, die nicht allein Kinderbuchautorin, sondern auch politische Kolumnistin ist, im vergangenen Jahr dem Morgenblatt steckte: „Fünfzig Jahre habe ich Aufklärungsarbeit geleistet, und wofür? … Man schreibt nur für die seinigen.“
Zu denen nun der SZ-Mann Böttiger, was mich betrifft, nicht gehört, der am Gründonnerstag nicht anstand, die Lieblingsidiotie des zeitgenössischen Journalismus im Feuilleton zu vervielfältigen und von „Arno Schmidts Entscheidung, freier Schriftsteller sein zu wollen“ Mitteilung machte; und natürlich ganz sinnlos die Frage, wie es überhaupt möglich ist, die manierierte Dummheit dieser Dopplung nicht zu sehen (preßdeutsch: nicht sehen zu können), über Schopenhauer und sein Dekret, man könne eh nicht wollen wollen, ja noch hinausschießend bzw. hinter ihm freilich zurückbleibend. Aber erstens gibt es bekanntlich grundsätzlich keinen Blödsinn, den Journalisten (m/w) nicht voneinander abschreiben, und zweitens scheint hinter der aktuellen Begeisterung für die Entscheidung oder die Absicht oder gar den Willen zu wollen ein verzweifeltes Klammern ans Wollbare überhaupt zu stecken, so als zähle das, was zu wollen wäre, noch irgendwas und nicht im Gegenteil gar nichts.
Währenddessen steigt die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder, und es sind nicht allein die der Türkinnen; auch autochthone Großstadtfrauen gebären munter, was mit der gewachsenen Zahl von Betreuungsangeboten zu tun hat sowie damit, daß Kinder jene Zukunft sind, die vor der Ahnung, daß der Begriff „Zukunft“ in der Markt- und Facebookgesellschaft nur mehr Kalendarisches meint, dann eben so selbst gemacht wird wie die Marmelade; ein Umstand, der sogar unseren Frauenromanschriftstellerinnen aufgefallen ist: „ … und wie immer, wenn alles den Bach runtergeht, zeugen die Leute Kinder wie verrückt, zum Dranfesthalten, zum Weitermachen, zum Durchhalten, und es es ist gut wenn es etwas gibt, das das Wichtigste ist“ (L. Fricke, Töchter, 3. Auflage Reinbek 2018). Und dieses Wichtigste sitzt dann im ICE und sieht, vorbildlich genug, still aus dem Fenster, während die Mutter Marke North Face ein Quizkartenspiel in der Hand hat und, vor raumgreifender Lebenslust bebend, in einer Lautstärke Quatschfragen durchs Abteil wiehert, als handele es sich dabei ums eigene Wohnzimmer: Wir sind’s, die Bildungsfamilie, Modell Zukunft! Ruhe kehrt erst ein, als die Idiotin mit ihrem nicht minder skandalösen Gatten aussteigt und zwei Kinderlosen und zwei alten Damen Platz macht, die in Rußland (oder wo) noch gelernt haben, wie man sich schämt.
„Anfrage, ob mir die Zukunft kein Thema ist. / Die Mirabellen blühen zuerst.“ Jürgen Becker, 2017
Zwei Tage später in der Zeitung dann schon wieder ein Bericht über den sog. „Übertourismus“, über Städte wie Barcelona, Venedig, Dubrovnik, die von Touristenhorden „niedergetrampelt“ werden, weil Flüge bloß „eine Pizza und ein Bier“ kosten; und natürlich hat auf dem Aufmacher einer sein beknacktes Telefon in der Hand, Barcelona zu knipsen, und wie alt ist die Beobachtung, die Leute reisten ganz allein der Fotos wegen? 60 Jahre (G. Anders); und heute können sie überall hin, und wenn „immer noch so viele an die gleichen, überfüllten Orte reisen“, dann darum: „Es stört sie einfach nicht“ (SZ). Weil sie die Freiheit, überall auf der geschundenen Welt in bestürzend achtloser Aufmachung Fotos und „Party“ zu machen, nur da ertragen, wo Masse und Krach dafür bürgen, daß Freiheit auf gar keinen Fall etwas mit Besinnung zu tun hat und physische Mobilität nichts anderes meint als im Kopf das Gegenteil.
„Sehet meine Hände und meine Füße: ich bin’s selber“ (Lukas 24,39). Lange her, daß das zu sagen noch keine Unverschämtheit war. Ich wünsche gute Ostern.
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