Inhalt der Printausgabe

Alltag in der Nazi-WG:
Eine Heimgeschichte

Ein Volk,
ein Reich,
eine Wohnung

Es ist Frühling, die Luft ist lau, die Bienen blühen. Ein grauer Betonbunker erhebt sich atmosphärisch aus dem grellen Licht der Morgensonne, als ob es das Anfangsbild einer Reportage wäre.

Hanno und Björn erwarten uns bereits. Beide tragen Kapuzenpulli und Kappe. Auf den ersten Blick sind sie nicht als Neonazis erkennbar, verbreiten sie ihre Botschaften doch subtiler. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass sie gerade eine vier mal sieben Meter große Hakenkreuzfahne hissen.

»Oha! Die Zecken von der Lügenpresse!« begrüßt uns Hanno herzlich. Sie wollen unsere Tour im Vorgarten, ihrer »kleinen Scholle« beginnen. Das Stückchen Wiese vor dem Haus sei ein idealer Ort, um von dem ganzen Hass-Posten, Prügeln und Anschlagplanen mal runterzukommen. Am Wochenende trifft man sich hier zum Grillen, Plaudern oder für eine kleine Wehrsportübung. Durch einen Maschendrahtzaun blicken wir auf fünf Quadratmeter dürres Gras, so braun wie seine Besitzer. »Tut uns leid, dass aktuell nicht gewässert und gemäht ist. Das ist eine echte Rasenschande!« Die Gartensaison beginnt hier erst am 20. April. Das Datum ist zufällig gewählt. Dann baut man urgermanisches Gemüse an, also ausschließlich Kartoffeln. »Aber die Kartoffel kommt aus Südamerika«, wenden wir ein. »Aber die Kartoffel kommt aus Südamerika«, äfft uns Björn nach. Hanno legt beruhigend seine Hand auf Björns Schulter. Gemeinsam atmen sie dreimal tief durch, dann bitten sie uns herein.

Insgesamt zwölf Nazi-WGs sind in dem alten Hochhaus untergebracht. Wir müssen hoch in den 11. Stock. »Nieder mit der Willkommenskultur!« steht unter einer aufgemalten Sonne auf der Fußmatte vor Björns und Hannos Wohnungstür. Wer im Vorzimmer ein Hitler-Porträt erwartet, wird enttäuscht. Es hängen gleich zwei Hitler-Porträts an der mit blauer Kornblumen-Tapete beklebten Wand. Die Wohnung ist klein wie Goebbels, aber die Zimmer sind gut verteilt wie Nazis in der hessischen Polizei. »Wir hoffen trotzdem bald auf mehr Lebensraum im Osten.« Russland? »Nee, bis im Ostflügel was Größeres frei wird.«

Wir gehen einen engen Flur entlang, der nicht unbedingt an eine Bunkeranlage erinnern würde, wäre nicht das Wort »Bunkeranlage« in großen schwarzen Lettern an die Wand gesprayt. Nach gefühlt zehnminütigem Marsch gelangen wir zum wichtigsten Ort jeder WG, in die Küche, und setzen uns an einen runden Tisch. Hanno stellt Gläser bereit und schenkt ein: »Hier, trinkt erst mal vom arischen Apfel! Selbstgepresst: Saft durch Freude!« Fremdländische Zitrusfrüchte kämen ihm nicht ins Haus. »Zitrus- und Zionismus – beginnt beides mit Zi-… Zifall? Äh, Zufall? Wohl kaum. Durch orientalisches Obst soll der deutsche Volksfruchtkörper geschädigt werden!« Hanno redet sich sichtlich in Rage. Björn beschwichtigt. Das sei ein emotionales Thema für Hanno, da dieser an schwerer Fruktoseintoleranz leide: »Intoleranz finden wir ja eigentlich super, aber bei der Ernährung hat sie ihre Nachteile.«

Die Küche gilt als das Führerhauptquartier der Wohnung. Dort trifft man sich, bespricht und empfängt Befehle. Gleich neben dem Herd befindet sich eine kleine Tür, auf die Alufolie geklebt ist. »Kommandozentrale« steht auf dem Türschild. Hanno bemerkt unseren interessierten Blick: »Da drinnen planen wir Großes. Immer wieder kommt es im Putztrupp zur Fahnenflucht Es ist unser organisatorisches Zentrum, unser konspiratives Herzstück, unser Tor zur Walhalla.« – »Früher war’s mal ein Kabuff«, fügt Björn hinzu, »aber dann haben wir Alufolie auf die Tür geklebt.« Wir dürfen einen Blick wagen. Das Zimmerchen ist gerade mal groß genug für den massiven Konferenztisch, der darin steht. Darauf stapeln sich Karten, Pläne, ein Kompass, kleine Spielfiguren. »Das ist der Ort für gefährliche Gedankenexperimente, die nicht jedem gefallen werden, die aber notwendig sind: Hier machen wir unseren WG-Putzplan.« Der aktuelle Entwurf hängt auf einer Plakatwand. Er sieht aus wie ein komplexer Schlachtplan. Hanno ist diese Woche in der Schmutzstaffel der Kehrmacht als Oberstaubbandführer eingeteilt. »Meine Strategie: Durch brachial schnelles Vorstoßen des Putzkommandos soll der Schmutz überrascht werden. Ich nenne diese Taktik ›Blitzblankkrieg‹.«

Trotz der klaren Einteilungen funktioniert aber nicht immer alles reibungslos. »Bei der Einhaltung des Putzplans merkt man, dass manche hier nur mit Säuberungen zu tun haben wollen, wenn es ethnische sind«, sagt Björn augenzwinkernd. Auch die korrekte Abfallentsorgung muss immer wieder thematisiert werden. »Bei Rassentrennung jubeln alle, aber bei der Mülltrennung ist keiner mehr mit Freude dabei.« Auch ist es ärgerlich, wenn namentlich klar gekennzeichnetes Essen aus der Gemeinschaftsküche verschwindet. »Wenn dann irgendwer nachts aus dem Kühlschrank einfach was für sich arisiert, ärgert einen das schon,« beklagt sich Björn. Und auch die typischen Ausreden, wenn man den Einkauf vergessen oder den Müll nicht runtergebracht hat, gehen den beiden manchmal auf die Nerven. »Meine Mutter hat angerufen, mein Wecker ist nicht abgegangen, jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung … Ich kann’s schon nicht mehr hören!« Nur Björn gibt jeden Fehler immer gleich zu: »Das einzige, was der leugnen kann, ist der Holocaust«, pflichtet ihm Hanno bei.

Insgesamt drei Leute wohnen hier. Kennengelernt haben sie sich auf einem Konzert von Reinhold Beckmann. Gleich nach dem erfolgreichen Schulabbruch begann man gemeinsam zu wohnen, »Wir sind ein bunter brauner Haufen!«am Anfang noch als reine Nazi-Skinhead-Formation. »Eine reine Skins-WG hat ihre Vorteile«, berichtet Björn: »Es gab zumindest nie Streit darüber, wer nach dem Duschen vergessen hat, die Haare aus dem Abfluss zu holen.«

Heute ist diese wie auch die anderen Nazi-WGs im Haus aber viel multikultureller: »Identitäre, Pegida-Organisatoren, Naziskins, Burschenschaftler, Blut-und-Boden-Bauern, germanische Reichsdruiden … Wir sind ein bunter brauner Haufen und für alles offen – Hauptsache Nazi.«

Doch wie kommt man als Faschist auf die Idee, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen? Viele, die hier wohnen, haben gut bezahlte Jobs, mit denen sie sich problemlos alleine eine Wohnung leisten könnten: Bundeswehrsoldat, Verfassungsschützer, Bundestagsabgeordneter. »Aber als Braunhemd ist man manchmal eine einsame Wolfsschanze, wird beim Ausgrenzen ausgegrenzt. Immer nur alleine Hasskommentare schreiben, die Anonymität der Foren – da fehlt einem auf Dauer menschliche Wärme. Hier suchen deshalb viele wie ein Ostmärker einfach Anschluss«, erklärt Hanno.

Nun wollen uns die beiden den dritten »Wohnkammeraden« vorstellen. Wir gehen an das Ende des engen Flures, wo sich eine dicke Holztüre befindet. Björn öffnet sie behutsam.Eine Frage der Identität In einem gänzlich weißen Raum, ohne jegliche Einrichtung und ohne Fenster, hockt eine einsame Gestalt und murmelt vor sich hin: »Wer bin ich? Wer bin ich?« – »Das ist Klaus, der ist bei den Identitären. Leider hat er sich so intensiv mit den Fragen der Ich-Identität beschäftigt, dass ihm ein paar Leitungen rausgesprungen sind.« »Wer ist dieser Klaus, von dem ihr da sprecht?« kreischt Klaus. »Ist er ein völkischer Deutscher? Ein nationaler Europäer? Ein christlicher Abendländer? Ich kenne ihn nicht, diesen Klaus, von dem ihr da sprecht!« Björn schließt hastig die Türe und sperrt ab. »Wenn er diese Phase hat, errichten wir ihm sein eigenes kleines Reichsprotektorat. Nach zwei, drei Stunden hat er sich wieder abgeregt und kann zur Arbeit gehen. Er ist der Ghostwriter von Thilo Sarrazin.«

Damit ist unser kleiner Rundgang beendet. Wie aber soll es weitergehen mit den Nazi-WGs? Gibt es spezielle Zukunftspläne? Björn und Hanno sehen in diesem Wohnkonzept großes Potenzial und planen, eine eigene Makler-Firma zu eröffnen: »Mit Teutonen wohnen«. Außerdem überlegen sie, eine Internetplattform zu gründen, auf der ausschließlich Gleichgesinnten Unterkünfte angeboten werden: »Arierbnb«. Sogar ein Betreutes Wohnen für Alt-Nazis denken die beiden rückwärtsgewandten Vordenker an. »Motto wäre dann: ›Unsere Ehre heißt betreue!‹«

Hanno sieht gedankenverloren aus dem Fenster, dann sagt er mit fast zittriger Stimme: »Wir haben durch das Leben in einer Wohngemeinschaft so viel gelernt, etwa wie wichtig es ist, offen aufeinander zuzugehen, sich mit Respekt zu behandeln, damit man friedlich und gut zusammenleben kann.« Björn hat beinahe Tränen in den Augen, als er ergänzt: »Die Kernbotschaft ist vielleicht, sein Gegenüber einfach so zu akzeptieren, wie es ist.«

Aber das ist kein nationalsozialistisches Gedankengut, sondern, vereinfacht, die Basis einer pluralen, solidarischen Gesellschaft. Sie seien ja gar keine echten Nazis, teilen wir Hanno und Björn mit. Man merkt, wie diese Information langsam bei den beiden einsickert.

Als sie uns kurz darauf mit Baseballschlägern bewaffnet die Straße hinunter jagen, ziehen wir eine erste Bilanz. Der Besuch in dieser WG hat uns einen Blick auf die alltägliche und zwischenmenschliche Seite des Nazi-Lebens gewährt – und es kann gesagt werden, dass man bei einer solchen Reportage vor allem eines niemals vergessen darf: Wo ist das Fluchtauto geparkt?

 

Jürgen Miedl

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg