Inhalt der Printausgabe

DIE KETTEN DER KANZLERIN

Eine glänzende Schmuckanalyse

Margaret Thatcher trug allegorische Broschen in Gestalt von Drachen und Schlangen, Joschka Fischer ließ seinen funkelnden Siegelring sprechen und Theresa May behängte sich mit extravaganten Klunkern bis zum Bauchnabel. Und doch, niemand weiß seine Bijouterien so symbolträchtig, so raffiniert in Szene zu setzen wie Angela Merkel ihre Halsketten. Es sind Hunderte, vielleicht Tausende: schlichte Silber- und gedrechselte Edelsteinketten, ornamentale Gold- und zweifelhaft produzierte Elfenbeinketten. Fast täglich umschmeichelt eine neue ihren Krötenhals. Angela Merkel hat in zwanzig Jahren mehr Ketten verschlissen als männliche Kontrahenten ihrer Partei.

Jeder Bürger dieses Landes weiß um »Merkels Schmucktick« (»Bild«), kennt die »Kettensucht« (»Express«) der Kanzlerin. Jedes neue Schmuckstück lässt ihr Volk rätseln: Ist der spiralförmige Anhänger, den sie bei der Beisetzung von Helmut Kohl um den Hals hängen hatte, wirklich ein Emblem purer Lebensfreunde? Besteht die schwarze Kette, die sie bei der Verkündigung des endgültigen Atomausstiegs schmückte, tatsächlich aus Bröckchen angereicherten Urans? Und wofür stand das geheimnisvolle Gehänge in den Farben Schwarz, Rot und Gold, das sie beim WM-Finale 2014 trug? Wollen die Ketten wirklich zum Wahlvolk sprechen oder nur einen hässlich verwachsenen Kehlkopf kaschieren?

[1] Laut Wikipedia ist die Perle ein Fremdkörper in einer Muschel, so wie Merkel in den Neunzigerjahren ein tapsiger Fremdkörper in der CDU.

Was auf den ersten Blick wie Willkür wirken mag, ist in Wahrheit Teil einer ausgeklügelten Bildsprache, ja einer jahrzehntelangen dekorativen Dramaturgie.

Man betrachte nur die frischgebackene Familienministerin im Jahr 1991, weiße Perlenkette auf weißem Acrylpulli [1]: Mehr demonstrierte Jungfräulichkeit geht nicht. »Obwohl ich das zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr war«, kommentiert Merkel heute schmunzelnd. In politischen Dingen aber schon: »Ich kam zum Kapitalismus wie die Jungfrau zum Kinde«, erinnert sich die Kanzlerin. In der sozialistischen Ikonografie sind Perlen Ausdruck »bourgeoiser Scheiße« (Walter Ulbricht). Für die junge Christdemokratin ist dieses Accessoire ein frühes, klares Bekenntnis zu Klassenhierarchie und Marktwirtschaft. In der kurdischen Mystik hingegen ist die Perle »ein Embryo, der am Grund seines Muscheluterus schlummert«. Eine Mystik, die Merkel nach eigenem Bekunden »schnurzpiepegal« ist, und dennoch ein Perlchen Wahrheit in sich trägt: Merkel, eine aufstrebende Politikerin im Uterus des übermächtigen Noch-Kanzlers. Die Farbgebung dieses »Nuttenschmucks« (Friedrich Merz) steht aber auch für Leere. »Vor allem in meinem Kopf«, gesteht Merkel rückblickend, die für fein geschliffene Argumentationsketten und Sprachperlen nicht gerade bekannt ist.

KETTENRASSELN IM BUNDESTAG

[2] Voll im Bild: Merkels Gehänge. »Und die Silberkette sieht auch ganz schmuck aus, Zwinker-smiley« (Jean-Claude Klunker).

Halsketten, sagen Schmuckanalysten, sind von herausragender Aussagekraft, und nicht weniger »als die zarte Trennlinie zwischen Kopf und Rumpf« (Internet). In den späteren Neunzigerjahren wurde Merkels Putz kecker, verspielter, ornamentaler, ausladender. Darunter jene Silberkette in Form eines liegenden Viertel mondes, welche die ambitionierte Generalsekretärin im Jahr 1999 bei den Bayreuther Festspielen trug [2] und Fashion-Psychologen aufhorchen ließ. Ein Geschmeide, schillernd und anspielungsreich, was sollte es nur darstellen? Einen türkischen Mond – Gruß an ihren damaligen Duzfreund Erdo˘ gan – eine gefallene Sichel ohne Hammer, eine durchgesessene soziale Hängematte, eine Banane, als ironische Reminiszenz an die Entbehrungen der DDR, oder gar der erste Buchstabe ihrer Partei, die zu dieser Zeit dank der Spendenaffäre buchstäblich darniederlag? Ob eine dieser Deutungen zutrifft oder die Kette »einfach flott war« (Merkel), fest steht lediglich: Gewerkelt wurde sie in Merkels Lieblingsschmuckmanufaktur, der sie bis heute die Treue hält: Bijou Brigitte, Bahnhofsstraße 15, Templin.

[3] Kesses Bling-Bling, selbst geschmiedet wie Merkels geheime Machtpläne für die nahende Kanzlerschaft

Gehorchen ist Silber, Herrschen ist Gold: Mit der Kanzlerkandidatur kamen die hochkarätigen Goldtöne. Rotgold, Weißgold, Nazigold umspielte in den Nullerjahren ihren kurzen, gedrungenen Hals. Wie die 2004 zur Schau getragene Goldkette in Form eines Eis [3]: Signum des Lebens, aber auch des Todes, des politischen Todes langjähriger Rivalen wie Edmund Stoiber oder Christian Wulff.

Zur kurz darauf folgenden Kanzlerschaft gesellten sich die schweren Schmucksteine: dralle Diamanten, monströse Morganite, größenwahnsinnige Goldberylle, Amethyste und Bolschewysten, geschürft von Kinderhänden in Edelsteinminen der kongolesischen UNICEF. So wie dieser viereckige Rubin im Jahr 2006 [4], Merkels »Befehlskette« (Thomas de Maizière), Sinnbild der Quadratur der Macht, aber auch der Mattscheibe, die Merkel bald zum totalen Medium ihrer Herrschaft ausbauen sollte.

Im Jahr 2008, auf ihrem politischen Zenit, verschrieb sich Merkel dem trendigen »Ketten-Stacking« (»Glamour«), zog gleich mehrere Ketten übereinander. Wie hier [5], über einer schlichten Schwarzen ein gigantisches goldenes Muschelhorn, Gastgeschenk des turkmenischen Diktators Gurbanguly Berdimuhamedow. Das Muschelhorn dient in der zentral asiatischen Kultur als Symbol der Wollust und sexueller Enthemmtheit, eine Symbolik, die Merkel mit einem Achselzucken (»aha«) quittierte. Die farbenfrohen Trolle und Kobolde, die sich um das Horn ranken, offenbaren einen Hang zu Maßlosigkeit und Spielerei, auch in politischen Dingen. In der Sagenwelt der Uckermark soll dem goldenen Horn zudem eine zerstörerische Magie innewohnen. Zufall, dass Helmut Kohl, Merkels einstiger »Übervater« (Helmut Kohl), im selben Jahr ein unheilbares Schädel-Hirn-Trauma erlitt?

[4] In den späten Nullerjahren sind bunte Edelsteine die Insignien ihrer Macht. Neuer Lieblingsladen: Eine Topas-Bar in Madrid
[5] Vom Kleinod zum Großod: Goldener Anhänger als Sinnbild für Sonne und Licht, aber auch als Chiffre für Geschmacklosigkeit

Die Jahre 2010 bis 2013 gelten als Merkels Bernsteinphase. »Die Bernstein-Kanzlerin« (»Focus«) schmückte sich mit den »Diamanten des Volkes« (spöttisch: »Gala«), gab sich wieder volksnäher. »Bernstein steht für Optimismus, aber auch Pessimismus; Aktivität, aber auch Passivität« verrät Fashion-Expertin Uta Walz. Im ostdeutschen Volksglauben soll Bernstein zudem Schutz vor bösen Zauberern und Dämonen bieten, in diesen Jahren personifiziert durch Horst Seehofer und Norbert Röttgen. Bernstein scheint jedoch auch eine lähmend-paralysierende Wirkung zu haben, wie Schnappschüsse [6] aus jenen Jahren beweisen.

[6] »Tja, ich hab halt immer viel am Hals«, ob braune Steine oder braune Parteigenossen.
[7] Rechts im Bild: das schwächste Glied in der Kette

In den Zehnerjahren taucht Merkels berühmteste, sagenumwobenste Kette auf, die sie gleich mehrfach trug: Längliche Klunker in Schwarz, Rot und Gold, fein gearbeitet aus Schaumkoralle, Onyx und den Goldplomben von Roland Koch – ein Unikat, erstanden für einen mittleren einstelligen Betrag. Farbpsychologen zufolge repräsentiert diese Kolorierung Hurra-Patriotismus und einen übersteigerten Nationalismus. Fast überirdisch: Wann immer sie diesen edlen Zierrat am Hals hatte, konnte sie einen Sieg einstreichen, ob beim Fußball-WM-Finale 2014 oder der triumphalen Bundestagswahl 2017 gegen Martin Schulz [7]. Die »Wunderkette« (»Taz«) zeigt aber auch etwas anderes: Die Klunker werden wieder dezenter, bezeugen eine Abkehr von Opulenz und Größenwahn, zurück zur Enthaltsamkeit.

[8] Angela Merkel besitzt mehr Halsketten als Christian Lindner Motivsocken.

In den letzten Jahren wurden die Ketten schmaler und schmaler. Wie die schlichte, selfietaugliche mit türkisen Akzenten (7,99 Euro), die Merkel auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingsschwemme« (FAZ) trug [8], unter besorgten Bürgern auch als »Willkommenskette« oder »Gutmenschenkette« apostrophiert. Es heißt, die einzelnen Kettenglieder seien gefertigt aus zerschlagenem Grenzstein. Die Kombination aus Schwarz und Türkis symbolisiere Unvernunft, Wahnsinn und Verrat am deutschen Volk, weiß Hobby-Geologin Alice Weidel zu deuten.

Und heute? Heute sind die meisten Ketten wieder silberfarben. Man munkelt, gegossen aus den Amalgamfüllungen griechischer Insolvenzopfer. Silberglänzender Schmuck steht für Leichtigkeit, Freiheit, Schnelligkeit und Klarheit. Merkel steht aber leider inzwischen für das Gegenteil – ein Ausweis des Verlusts eigener Stilsicherheit, Symptom einer zerrütteten Identität. [9]

Und was wird morgen sein? »Gute Frage, nächste Frage«, orakelt die machtmüde, einst mächtigste Frau der Welt und kaut grübelnd auf ihrem aktuellen Silbercollier herum.

[9] Hatte schon als Kind einen Brustbeutel voller Ostmark um den Hals baumeln: Kettenfetischistin Merkel.

Mal gucken. Nach ihrem Abtritt als Kanzlerin verspüre sie wohl ein wenig Lust auf Veränderung. »Vielleicht eine hochwertige Gedankenkette, das wäre mal etwas Neues«, scherzt Merkel selbstironisch. Und mit dem anvisierten Rückzug ins Private sehne sie sich auch nach privaterem Putz. Vielleicht Intimschmuck? Eine gut gearbeitete Analkette, das könne etwas sein. Ob aus Perlen, Platin oder gespickt mit Rubinen, lässt sie aber noch offen.

Ella Carina Werner

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt