TITANIC Gold-Artikel

Der Müll, die Stadt und der Tod

TITANIC-Redakteurin Ella Carina Werner besucht die Bürgersprechstunde der Hamburger AfD.

Du kommst nicht einfach so rein. Du musst dich anmelden, und meistens bist du zu spät. "Leider sind alle Plätze bereits vergeben", heißt es in den ersten drei Mails, doch endlich habe ich es geschafft: Ich bin zugelassen zur Bürgerprechstunde der AfD im Hamburger Rathaus. Glückspilz muss man sein.

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Die Dramaturgie: Vier Hamburger AfD-Abgeordnete referieren ihre Themen, danach gibt's Interaktion. Den Auftakt macht Detlef Ehlebracht, Experte für Stadtentwicklung. Lausbubenblick, kantiges Schmunzelgesicht: Sein Äußeres oszilliert zwischen Grünen und NPD, sein Meinungsspektrum auch. Ehlebracht definiert das Stadtentwicklungsproblem No.1: Wohnraummangel. Vage deutet er einen Zusammenhang zwischen Wohnraummangel und Zuwanderung an. Die ersten Zuschauer scharren mit den Füßen. Das Publikum: knapp hundert Leute, sehr alt, sehr männlich, hier und da sitzt auch eine junge Lateinlehrerin mit Seidenschal darunter und ein Neonazi im Lacoste-Shirt.

Ehlebracht stoppt. Ein grauhaariger Bürger mit Runkelrübennase hebt die Hand und gleich an zum ersten Publikumsbeitrag. Er müsse jetzt mal etwas sagen: "Ganz Hamburg ist vermüllt. Die Stadt ist ein Dreckloch, eine einzige Müllkippe. Überall Unrat, wohin man schaut!" – "Jawollja, eine Drecksbude!" tönt es aus den mittleren Stuhlreien. "Ein Schmuddelschiethaufen", aus den vorderen. Wie sich die AfD da positioniere? Stille. Alle Blicke sind auf Ehlebracht gerichtet. Der verschränkt die Finger. Sorgenfalten zerfurchen seine Stirn. Ja, das habe er auch schon bemerkt. Die Verwahrlosung in der Stadt nähme zu: "Teile der Gesellschaft sind leider nicht mehr so erzogen, wie ich es war – ich schmeiß kein Papier auf den Boden!" Sein Zeigefinger hüpft durch die Luft, und jeder weiß: Dieser Mann würde nie einfach auf die Straße urinieren, außer vor die Flüchtlingsunterkunft in Hamburg-Bergedorf.

Eldorado Peru

Ein Bürger im karierten Hemd erhält das Mikro, kratzt sich am Kopf: Ob es einen Zusammenhang zwischen immer mehr Müll und immer mehr bestimmten neuen Bevölkerungsgruppen gäbe? Ehlebracht lächelt. Seine Frettchenaugen funkeln: "Ein Schelm, der Böses dabei denkt!" Ein hagerer Mann mit Fischkopf merkt an, er fühle sich nicht nur von dem Müll, sondern auch den städtischen Reinigungskräften gestört. Sein Vorschlag: Die Stadt dürfe nur noch nachts gereinigt werden, "dann ist tagsüber immer alles tipptopp sauber!" Ehlebracht nennt das einen spannenden Lösungsansatz, gibt aber zu bedenken, dass nachts die Reinigungskräfte auf unbeleuchteten Straßen den Müll nicht immer sehen könnten. Auch wieder wahr. Alle geraten ins Grübeln.

Ein Herr im leichten Sommeranzug schnippt mit den Fingern. In nordischem Käpt'n-Blaubär-Singsang erklärt er, er sei gerade in Peru gewesen. In Peru seien die Straßen viel reinlicher. Alles sei dort sauberer! Großer Aufruhr. Das gibt's doch nicht. Wir reich und dreckig, die arm und sauber, da stimmt doch etwas nicht. Dat geiht nich in den Kopp! "Und die Mülleimer sind in Peru viel größer", fährt der Andenfreund fort, "riesige Mülleimer! So rechteckige", seine Stimme überschlägt sich, "mit riesigem Einwurfloch!"

Der Saal ist bist zum Platzen mit Emotionen gefüllt. Der Herr schräg hinter mir umklammert sein mitgebrachtes "Grundgesetz". Drei blassrosa Post-its stecken darin. Nur der AfD-Landesvorsitzende Dirk Nockemann ist bereits am Wegdämmern. Man spürt: Der Schlussredner ist kein Typ für herumliegende Snickers-Verpackungen, dieser rotblonde Titan und einstige Saufkumpan von Ronald Schill ist mehr fürs große Ganze.

Vermüllung der Gesellschaft

Ein Schlipsträger hebt alle fünf Gichtfinger und wirft ein, dass es seit kurzem in Hamburg übrigens neue Müllbehälter gebe. "Jaha", ruft ein anderer, mit dem weidwunden Blick einer an Mikroplastik verendenden Möwe, "aber die sind zu klein! Und immer schon voll. Wenn man da etwas reinwirft, dann quillt es", der Mann wirft beide Arme in die Luft, "oben wieder heraus!" Kehlige Laute der Zustimmung. Allgemeine Verzweiflung. Eine Reihe vor mir nuschelt ein Herr seiner Begleiterin zu, er komme nicht mehr ganz mit. Sei das mit der Vermüllung der Gesellschaft jetzt metaphorisch gemeint oder nicht?

Schon neunzig Minuten. Der Abend droht monothematisch zu enden.

Die nächste Rednerin ist die Umweltexpertin Barbara Oelschläger, doch sie kann es nicht rocken, ist demagogisch eine Null. Lustlos, ja schlimmer, sachlich referiert sie ihre Themen herunter, unfähig, irgendeinen Aufreger herauszumeißeln, Hundekotbeutel als heimatstiftendes Element zu befeuern oder E-Bikes als Untergang des Abendlands. Schon besser: der dritte Redner, Prof. Dr. Jörn Kruse, Wirtschaftsikone, die Lippen gekräuselt, lässig zurückgelehnt, ein glühender Verfechter von Überwachungskameras, mit denen man, by the way, auch die Müllsünder dingfest machen könne. Jörn Kruse ist der Performer des Abends. Wenn Landesvorsitzender Dirk Nockemann nicht wäre.

Drecksloch Rote Flora

Finalredner Nockemann raunt ins Mikro, in Deutschland gäbe es kaum noch "Prinzipien", nur noch "Beliebigkeit". Und irgendwann dann sei der Staat am Ende. "Wegen dem Müll?" erkundigt sich jemand aus der Zuschauerriege. "Auch." Aber auch wegen bestimmter neuer Bevölkerungsgruppen: "Die Flüchtlinge kosten uns 80 Milliarden!" Und um seine Aussage zu unterstreichen, um das ganze Ausmaß gestisch zu untermauern, hebt er einen Arm hoch in die Luft und donnert: "Das ist dann weg, das Geld!" Oha. Ein Schlucken im Publikum. Der Herr schräg hinter mir umklammert sein Grundgesetz noch fester. "Weg", formen seine Lippen tonlos. Weg, futschikato, perdu.

Nockemann hat sie. Nockemann versucht nicht, Fachwissen vorzutäuschen. Fachlich können andere. Nockemann ist ein Fabulierer. Plastisch, zum Greifen nahe erzählt der Top-Demagoge übergangslos von all den "G-20-Terroristen", wie sie im Juni zwosiebzehn über die Elbchaussee schlunzten, wie sie erst "ganz normale Klamotten" trugen, sich dann aber ruckizucki umzogen und zack, plötzlich vermummt waren! Der Neonazi hebt an zur Frage, wie lange noch die Fördergelder für die Rote Flora flössen, die übrigens auch total vermüllt sei. Voller Graffitis und Müll. 

"Ja, der Müll", raunt Nockemann. Die ganze Stadt sei vermüllt.

"Jetzt meint er es aber mehr im übertragenen Sinne", flüstert der Mann vor mir.

Sauberes Schlusswort

Ob man noch was zu Peru sagen dürfte, tönt es durch die durch Stickstoff und Angstschweiß mittlerweile verpestete Saalluft. 

Darf man nicht. Die letzte Frage wird zugelassen. Ein Herr im weißen Hemd steht auf und sagt, alle zehn Jahre ginge er auf Weltreise. Wenn er zurückkäme, sähe er jedes Mal, dass es in Deutschland schlimmer geworden sei. Alle zehn Jahre noch schlimmer, dreckiger, verwahrloster. "Ich frage Sie", ruft er in den Raum, dass es von der stuckverzierten Decke widerhallt, "wie schlimm wird es noch?" Gute Frage. Da muss sogar Nockemann grübeln. "Sehr schlimm", entgegnet dieser schließlich. "Aber wenn die AfD in drei Jahren an die Regierung kommt, wird es hoffentlich schöner für Sie in Deutschland. Schöner für – uns alle!" Was für ein Schlusswort. Der Weltenbummler sinkt zurück auf seinen Platz, als freue er sich schon auf die nächste Heimkehr, ja als wolle er bald nie mehr weg. "Und fahren Sie doch mal nach Peru!" ruft ihm der Südamerikakenner zu.

Dann: allgemeiner Aufbruch. Ein Bartträger dreht sich im Gehen zu uns um. Warum ich eigentlich die ganze Zeit mitgeschrieben hätte, ob ich eine von der Presse sei? Ich verneine. Ich sei Dichterin und arbeite gerade an einem Gedicht über Rassenhygiene. Ach so. 

Am Ausgang hat sich eine Menschentraube gebildet, diskutiert über das Für und Wider von Schwingklappen bei Müllbehältern. 

Alle anderen Besucher strömen hinaus in die Frühlingsnacht, auch ich. Die Luft ist warm. Eine einsame Plastiktüte tanzt durch die Luft. 

Nur ein Bürger steht immer noch unschlüssig auf dem Rathausplatz, das "Grundgesetz" fest umklammert. Dann, nach ein paar Minuten, stiefelt auch er los, wohin auch immer, ob zu sich nach Hause oder gleich nach Peru.

Ella Carina Werner

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt