Inhalt der Printausgabe
Auffällig unauffällig
Deutschland befindet sich im Fadenkreuz internationaler Terroristen. Was sie besonders gefährlich macht: Sie haben Bomben – und führen ein Leben wie ich und du und Müllers Kuh (Frau Müller).
Sie sind überall. Im Supermarkt. In der U-Bahn. In der Nachbarzelle. Sie heißen Peter, Günter, Fred oder Gisela, Bärbel, Annafrid von Abba. Sie fahren Mazda, Bus oder schwarz, ihre Lieblingsessen sind Grütze, Kohl und Spaghettieis Carbonara. Besondere Kennzeichen: F-UT 69. Der nette Herr von nebenan, der freundliche Student von untendrunter, der liebenswerte Gammelfleischverkäufer vom Trashdöner: Sie haben, bei allen Unterschieden, eins gemeinsam: Sie sind auffällig unauffällig.
Egal ob bei den Anschlägen vom 11. September, der Entführung Natascha Kampuschs oder den gescheiterten Kofferbombenanschlägen von Kiel: Stets waren es die Unauffälligen, Gewöhnlichen, eigentlich Unverdächtigen, die plötzlich für Schlagzeilen sorgten. Nie hatten sie sich hervorgetan, durch Nobelpreise, Guinessbuchrekorde oder Weltkarrieren als Solopianisten. Brav waren sie zur Schule gegangen, hatten eine ordentliche Ausbildung gemacht oder studiert, bis sie sich plötzlich als Superschurken oder US-Präsidenten entpuppten. Biedermänner im Wolfspelz.
Früher, in der guten alten Zeit, hatte man noch Angst vor dem sprichwörtlichen Schwarzen Mann (Helmut Kohl), dem Fremden, Anderen, bedrohlich Außer-gewöhnlichen, vor Krieg, Pest, Juden, später vor Turbanträgern und Rüben-bärten. Heute speist sich ein diffuses Angstgefühl aus der Unfähigkeit, Bedrohliches von Harmlosem zu unterscheiden: Ist der neue Abteilungsleiter, der einen Spoilerporsche fährt, vier Siegelringe trägt und ein T-Shirt mit der Aufschrift »I’m a Downsizer, Baby«, jetzt eine Bedrohung – oder nicht? Liebt der Nachbar, der sich ein halbes Dutzend kleine süße Esel im Wohnzimmer hält, einfach Tiere – oder ist er schwul? Und der Mann, der den Käse zum Bahnhof rollt: Ist er der neue Käsehändler – oder Osama bin (Käse-)Laden?
»Nichts Genaues weiß man nicht«, faßt Dirk Schulz vom Zentralforschungs-institut Bad Bevensen die Forschungslage auf den Punkt zusammen, »das Problem bei den Unauffälligen ist, daß sie so lange unauffällig bleiben, bis sie, einmal auffällig geworden, als Auffällige zu gelten haben. Dies das Ergebnis meiner Habilitation, an der ich zehn Jahre gesessen habe und die den Steuer-zahler an die 20 Millionen gekostet hat. Und rufen Sie mich bitte nicht mehr an!« Der durchschnittliche Unauffällige verdient im Jahr zwischen 20 und 50 000 Euro, hat null bis vier Kinder, wohnt zur Miete oder hat Wohneigentum und wählt alle vier Jahre irgendwas, wenn überhaupt. In vielen Regionen Ostdeutschlands wählt er zum Beispiel NPD und ist gleichzeitig Bäcker, Versicherungsvertreter und in der Freiwilligen Feuerwehr, hilft gerne bei kleineren Reparaturen und trinkt beim Feuerwehrfest genausoviel wie alle anderen. Daß dieser nette Herr in seiner Freizeit Neger anzündet, will, wenn es zu spät ist, wieder keiner gewußt haben. Bzw. schon, aber es war ihm nur recht.
Was bleibt, ist Angst. Ist das Gefühl, daß die Gefahr an jeder Ecke lauert. Wem kann man noch trauen? Hitler? Tot. Barschel? Auch tot. Gottschalk? Auch tot (praktisch). In dieser Situation trauen viele Menschen niemandem mehr, außer Günther Jauch, der in Potsdam in einer mit Quatschsendungen zusammengegaunerten 400-Zimmer-Villa mit Hubschrauberlandeplatz und Ponyschlachterei herumschreit und seine Töchter schurigelt – absolut auffällig. So auf-fällig, daß man weiß: Dieser Mann wird mich nie im Leben vergewaltigen oder in die Luft jagen. Höchstens zu Tode langweilen. Einer von den Typen dagegen, die morgens um drei die »Heute«-Nachrichten vorlesen müssen: Vorsicht! Der würde sich schon eher in die Luft sprengen, und mit ihm hoffentlich die Leute, die glauben, um drei Uhr morgens wolle irgendwer Nachrichten vom Vortag sehen.
Ein echtes Problem haben mittlerweile die Geheimdienste: Die meisten Agenten sind so unauffällig, daß sie sofort Verdacht erregen. Die CIA setzt deshalb mittlerweile verstärkt auf Agenten mit einer Mindestkörpergröße von 2,20 m, Augenklappe und Tourette-syndrom, die absolut auffällig das Gespräch am Nachbartisch belauschen und mit dem Zuckerstreuer nach dem Kellner werfen. Der neue James Bond wird dementsprechend von Daniel Craig nicht mehr als cooler Gentleman gespielt, sondern als unterbelichteter Lude mit Nasenring und tiefer-gelegter Corvette in Zweifarblackierung, der sich ab sofort so vorstellt: »Mein Name ist Bond, und ich hau dich gleich die Fresse ein, Herr Minister-präsident.« Wer bei Polizeikontrollen unbehelligt bleiben will, tut gut daran, einen Cowboyhut aus Gold zu tragen und ein gläsernes Klavier mit »Atomkraft? Ja bitte!«-Aufkleber hinter dem Auto herzuziehen. Terrorismusverdacht kommt so nicht auf. Dirk Schulz: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht mehr anrufen!«
Aber auch bis in die hohe Politik haben sich die auffällig Unauffälligen längst vorgearbeitet: Die laut Forbes-Magazin »mächtigste Frau der Welt« ist so unauffällig, daß ihr Anschlag auf das Gesundheitssystem schon wieder so gut wie vergessen ist. Angela Merkels Hobbys sind tatsächlich Lesen, Wandern und Sexualität, ihr Lieblingsgericht: Essen. Selbst bei Starfriseur Udo Walz nimmt die Bundeskanzlerin lediglich die Hausfrisur für 200 Euro, und bei H&M wird sie an der Kasse für eine ganz normale Kundin gehalten (»Diese Politikerin ist mir unbekannt«). Zu Hause tragen sie und ihr Mann (»Joachim«) Namensschildchen, damit sie sich nicht mit der Biedermeierkommode verwechseln.
Doch wie kann man sich schützen? Um auf Nummer sicher zu gehen, sollte man seinen Bekannten und Freundeskreis auf Punks, Strichmädchen, Glamrocker und Stachelschweine beschränken, einen Arbeitsplatz mit verhaltensauffälligen Kollegen wählen (RTL, Döner-Import KG, TITANIC-Redaktion) und sich möglichst mit Hella von Sinnen verheiraten. Viel Spaß dabei! wünschen Ihnen
Stefan Gärtner & Oliver Nagel
Von null auf hundert
Wie Unauffällige immer wieder Weltgeschichte machten
JESUS
Der uncoole Zimmermannssohn aus einem öden Wüstenflecken im Hinterland des Römischen Reiches ist ein Junge wie jeder andere: Null Bock auf Mathe, immer hinter Mädchen her und ständig Musik von Nazareth im Ohr. Ohne Schulabschluß verdient er sich sein Geld als ein Wanderprediger unter vielen – doch seine Reden bergen Sprengstoff: »Selig sind, die da Geld haben, denn sie können sich schicke Sachen kaufen« – bei so viel Sarkasmus steht bald der Staatsschutz auf der Matte und nimmt das berufsjugendliche Großmaul hops. Aber es ist zu spät: Explosionsartig verbreitet sich das sog. Christentum über die ganze Welt, auch wenn der damalige römische Kaiser Georgius II. (genannt »der Einfältige«) jeden verhaften läßt, der irgendwie aramäisch aussieht.
ADOLF HITLER
Der unauffällige Postkartenmaler aus der Wiener Vorstadt führt ein unstetes, aber doch unspektakuläres Leben, wird Politiker bei einer beliebten Arbeiterpartei, setzt die eine oder andere Reform durch, heiratet und stirbt unerwartet im Alter von 56 Jahren. Erst nach seinem Tod wird bekannt, daß hinter der bürgerlichen Fassade ein Massenmörder steckte, der nicht nur 140 Länder überfallen, sondern auch mehrere tausend Menschen umgebracht hatte. Und niemand hatte es bemerkt!
WOLFGANG BOSBACH
Der CDU-Politiker aus dem Bergischen Land war ein Hinterbänkler, wie er im Buche steht: Im Bundestag rumsitzen, mit ja bzw. nein stimmen, in Akten rummalen. Jahrzehntelang war der gelernte Supermarktleiter ein Rädchen im Getriebe, bis er in der Bundestagssitzung vom 4. 10. 1994 plötzlich »radikales Umdenken« forderte. Reaktion: null.
Aber den Versuch war’s natürlich wert.