Humorkritik | September 2019
September 2019
Einen lustigen Text zu schreiben ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, um eine Aggression akzeptabel zu machen.
Michel Houellebecq
Zur moralischen Ertüchtigung
Aus ernstem Material Komik zu destillieren, ist für Satiriker und Parodisten Alltag. Es geht aber auch umgekehrt: dass aus Komik Ernstes wird. Solches soll Hilaire Bellocs 1907 bzw. 1930 erschienenen Kinderversen widerfahren sein. Eigentlich die spät- oder nachviktorianische Erzieherei verulkend, wurden sie dem Nachwuchs von den spät- oder nachviktorianischen Eltern zur Warnung, Belehrung und moralischen Ertüchtigung vorgelesen, wie der Steidl-Verlag im Waschzettel zur 2019 erschienenen deutschen Ausgabe der Gedichte mitteilt.
Vermutlich werden die englischen Kinder über dieses Ansinnen, ähnlich wie die deutschen über die von Heinrich Hoffmann pädagogisch intendierten »Struwwelpeter«-Gedichte, eher gegrinst und gekichert haben. Die ausgewählten Unglücke jedenfalls, die Hans Magnus Enzensberger für das Bändchen mit dem Titel »Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt« übersetzt hat, sind kaum geeignet, den Nachwuchs Mores zu lehren, sondern vielmehr, ihn lustig zu stimmen; etwa wegen Jim, der beim Zoobesuch seinem Kindermädchen davonlief: »Er riss sich los und lief davon. / Im Nu fiel ihn – ihr ahnt es schon –, / bevor der Junge sich besann, / mit offnem Schlund ein Löwe an / und fraß ihn auf, wobei er sachte / den Anfang mit den Füßen machte. / Wer würde nicht vor Angst vergehen, / wenn jemand ihm zuerst die Zehen, / sodann die Waden, überdies / ein wenig oberhalb des Knies / die besten Stücke vom Gesäße / genüsslich von den Knochen fräße?«
Vielleicht haben sich manche Kinder sogar Bellocs 1932 publiziertes (und jetzt, übersetzt von Claus Sprick, von Steidl parallel herausgebrachtes) Bändchen über »Ladys und Gentlemen« besorgt und ihren Eltern vorgelesen. Mit komischen Frechheiten wie denen über die »Drei Rassen«, deren übelste der Südländer ist (»Das liederlichste Exemplar / mit schwarzem, ölig krausem Haar / nennt sich mediterran – ein Bock, / der heimlich schielt nach jedem Rock«), kann auch die Jugend von heute den schlimmen Alten einen Spiegel vorhalten: zur Warnung, Belehrung und moralischen Ertüchtigung. Aber die Ladys und Gentlemen grinsen hoffentlich nur.