Humorkritik | Februar 2014

Februar 2014

Vorwegnehmer Stulius Jinde

Komische Kunstwerke veralten ebenso wie ernste, Humoristen und Satiriker können genauso außer Kurs geraten wie ihre Kollegen aus dem seriösen Milieu. Eines haben sie diesen aber voraus: Es macht mehr Spaß, sie wiederzuentdecken. Julius Stinde (1841–1905) zum Beispiel, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten komischen Autoren zählte und dessen sieben Romane über die aufstrebende Berliner Kleinbürgerfamilie Buchholz (»Die Familie Buchholz«, 1884, »Frau Buchholz im Orient«, 1888, u.a.m.) seinerzeit viel beschmunzelt wurden.

Der promovierte Chemiker, der 1865 zur humoristischen Schriftstellerei konvertierte, gehörte dem 1882 gegründeten »Allgemeinen Deutschen Reimverein« (ADR) an, der sich der lustigen Aufgabe verschrieben hatte, das Versemachen und Literaturbasteln zum Volkssport zu erheben. Julius Stinde selbst spielte zu diesem Behufe unter dem Pseudonym Theophil Ballheim einen würdevollen Sportlehrer und betrieb eine gestrenge »literarisch-poetische Lehranstalt«, die mittels »poetischer Unterrichtsbriefe« die Adepten anlernte.

Mit Erfolg, wird doch die vom ADR geförderte »Kunst des Schüttelreimens« bis heute ausgeübt. Es können »durch seine Hilfe selbst Diejenigen, welchen die Muse den Kuß spröde versagen will, sich denselben erobern und also zu nützlichen Mitgliedern der Dichtergemeinde herangebildet werden«, erläutert Stinde und gibt zur weiteren Bedichtung die Schüttelreime »Sonnenwende – Wonnen sende, Klagesang – Sage klang, Krieg sehnen – Sieg krönen« frei.

Schüttelreime in Massenfertigung: das paßt gut ins Maschinenzeitalter. Aber auch die Technik des streng geregelten Sonetts eignet sich zur Fließbandproduktion. Nötig ist nur ein Thema, das der Dichtersmann seiner persönlichen Umgebung entnimmt, ferner, dem Zeitgeist des Utilitarismus entsprechend, ein Zweck, denn ein Sonett muß »gleichzeitig belehrend und fördernd einwirken, damit die Mühe nicht vergebens. Das Dichten muß nützen.« Heraus kommen Sonette, die die schädliche Wirkung kalter Getränke, die Gefahren der Zugluft und die Tödlichkeit von Kirschkernen bereimen.

Natürlich ist das alles auch eine Satire auf den Schulbetrieb und ein Bespötteln des selbstverliebten Volks der Dichter und Denker. Aber aus Jux kann Ernst werden! Ausgehend von Lessings Kritik an Goethes »Erlkönig«, dessen dichterischer Wirkung das Übermaß an Verben schade, geht Stinde – da »Goethe offenbar nicht im Stande gewesen, das Gedicht, genügend von Zeitwörtern befreit, künstlerisch umzugestalten« –, selbst ans Werk und strickt die Ballade von der ersten Strophe (»Später Ritt durch Nacht und Wind, / Reiter: Vater mit dem Kind, / Knabe in des Vaters Arm, / Gänzlich sicher, völlig warm«) bis zur letzten (»Angstschweiß nunmehr vaterseits, / Kindesächzen schwach bereits. / Ankunft Hof mit Müh’ und Not – / Armer Vater! Knabe todt!«) komplett um: ein doppeltes Bravourstück, mit dem es Stinde gelingt, den Expressionismus vorwegzunehmen – und auch gleich die Parodien darauf!

Das ganze Gedicht und mehr können Sie im von Ulrich Goerdten herausgegebenen Broschürchen »Nachrichten aus Theophil Ballheims Dicht-Lehr-Anstalt für Erwachsene« lesen, das allerdings schon 1992 im Rahmen der »Luttertaler Händedrucke« erschien und wohl nur noch antiquarisch zu kriegen ist; aber es irgendwo zu entdecken lohnt sich.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg