Humorkritik | September 2012
September 2012
Taube, Schwan oder Ente?
Daß man bei unfreiwillig komischer Lyrik Vorsicht üben muß, dürfte spätestens seit dem welfischen Schwan Julie Schrader bekannt sein, der in Wahrheit eine Ente war und Berndt W. Wessling hieß. Ob auch der preußische Schwan Ottilie Voß eine Ente war, steht noch dahin.
Vielleicht wurde sie wirklich 1840 (oder doch 1836?) in Königsberg als Tochter eines Regierungsbeamten namens Kuster geboren, heiratete 1862 leibhaftig den »bekannten« Kapellmeister und Stabstrompeter Ferdinand Voß, zog 1870 tatsächlich nach Berlin und veröffentlichte echte Bücher, darunter »Pereat der Staub. Hygienische Rathschläge« (1867) und die 1889 im »Lyrischen Verlag« erschienen sein sollenden »Gedichte«. Zumindest steht es so in Franz Brümmers 1913 zum sechsten Mal aufgelegten »Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart« bzw. wurde von ihrem Wiederentdecker Ulrich Goerdten ausgekundschaftet, der ihre lyrischen Erzeugnisse unter dem Titel »Die Taube in der Laube« (Bargfeld: Luttertaler Händedruck, 2001) neu herausgebracht hat.
Der Titel spielt auf das Gedicht »Der Garten« an, das die verheiratete Ottilie Voß »Herrn Kunstgärtner Mann gewidmet« hat: »Ich wandelte im Garten, / Ich suchte mein Liebchen, / Sie wollt’ sich mit mir necken, / Ich sollt’ sie nicht finden. // Ich saß in einer Laube / Und pflückte eine Taube, / Sie sah mich von ferne / Und sprang in meine Arme. // Wir gingen jetzt Beide / In inniger Freude, / Wir gaben uns einen Kuß / Und hatten daran Genuß. // Die Taube in der Laube, / Welche sie hatte gepflückt / Sollte für uns Beide / Ein Abendessen sein.«
Das ist, viele Jahre vor Einführung der reimlosen Lyrik mit unregelmäßigem Rhythmus in der deutschen Hochdichtung, ein prophetisches Gedicht. Wobei es sich keineswegs um einen Zufall handelt, sondern um Methode. Gänzlich ungereimt ist z.B. ihr Langpoem »Die Blume«, das sie »meinem ›Ferdinand‹ gewidmet« hat (mit Anführungszeichen um den Namen): »Und jetzt ist er begraben, / Liegt in dem tiefen Grab, / Ich konnt’ um ihn nicht weinen, / Daran hatt’ ich keine Freud!«
An solchen Gedichten hat man hingegen seine Freud’; doch auch, wenn es nicht zum Weinen wäre, bliebe der Verdacht, daß jemand dran gedreht hat. Bei Julie Schrader war es ihr oben genannter Großneffe, der im Stil einer abgelebten Vergangenheit Gedichte fabrizierte, die als Parodie zu spät gekommen wären, aber unter dem Etikett »unfreiwillig komische Produkte von damals« dem Publikum verkauft werden konnten. Bei Ottilie Voß könnte es insofern ähnlich sein, als womöglich der Verleger komischer Bücher Carl Freund ihr Schwiegersohn war. Er (oder einer seiner Autoren?) hätte dann, obwohl er sich vielleicht nur über seine Schwiegermama lustig machen wollte, mit der Figur der naiven, unbedarften Möchtegerndichterin, die unbedingt nach den zu hoch hängenden Tauben der Poesie greifen will, gut neun Zehntel der damaligen Lyrikproduktion parodiert.
Das Ganze wäre also ein literarischer Jux. Dafür spricht, daß ein »Gerhard Wendelbein, Professor an der Universität zu Walportsheim« eine schleimige »Vorbemerkung« zu dem Büchlein beigesteuert hat; außerdem, daß dieses mit einem »Register der Anbeter« schließt, in dem die Ehefrau und Witwe von »Boßhardt, Prophet« über »Ring, Lumpenmatz« bis »Schneider, der, von vis-à-vis« sage und schreibe 77 Verehrer auflistet; und endlich, daß bei Ottilie Voß der süßliche Ton der weiland herrschenden Lyrik immer wieder vom plötzlichen Einbruch der Realität vermurkst wird wie im (ausnahmsweise gereimten) Fünfzeiler »Das Veilchen«: »Das liebe kleine Veilchen spricht / Sieh mich nicht an und knick’ mich nicht; / Pflückst Du mich ab trägst mich nach Haus, / Vertrocken ich bald und Du – / Schmeißt mich zur Thüre hinaus.«
Scheinbar unfreiwillig komische Lyrik als Stilmittel der Parodie: Dieser bis heute beliebte Dreh (Günter Grass!) wäre hier wohl zum ersten Mal praktiziert worden. Vorausgesetzt, Ottilie Voß war kein Schwan, sondern eine Ente.