Humorkritik | November 2009

November 2009

Der Künstler als Kranker

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert, als die Aufklärung rundum gesiegt hatte und die Leute komplett auf ein vernünftiges, bürgerlich nützliches Dasein eingespurt wurden, steht abweichendes Verhalten im Ruch des Kranken. Der Neurologe Paul Julius Möbius diagnostizierte jede Abirrung von der allgemeinmenschlichen Norm als pathologisch. Der Terror der Normalität griff auch auf die Kunst über, wo seit alters die Randständigen und Schiefgewickelten zu finden sind: 1892/93 erklärte der Journalist und Arzt Paul Nordau in seinem zweibändigen Wälzer mit dem epochemachenden Titel »Entartung« die modernen Künstler zu »vertierten Idioten«.

 

Die französischen Symbolisten mit Mallarmé und Verlaine an der Spitze befand der Dr. med. für »gehirnerweicht«, denen »das Bewußtsein ihrer geistigen Krüppelhaftigkeit« fehle; was sie schreiben, seien »Faseleien«, und ihre Anhänger »Schwach- und Blödsinnige«. Über ein Gedicht von Verlaine: »Die Töne, die hier angeschlagen werden, sind von der irrenärztlichen Klinik her wohlbekannt.« Bei Mallarmé braucht der Mediziner für seine Diagnose nicht einmal ein Gedicht heranzuziehen, ein Blick auf den Dichter genügt, hat der doch »lange und zugespitzte Satyr-Ohren«, wie »sie bei Verbrechern und Wahnsinnigen besonders häufig vorkommen.«

 

Nicht besser steht es um Richard Wagner, im Gegenteil: Der »ist mit einer größeren Menge Degeneration vollgeladen als alle anderen Entarteten zusammengenommen«. Medikus Nordau diagnostiziert »Verfolgungswahnsinn, Größenwahn« und sogar »Neigung zu blödsinnigem Kalauern«, brandmarkt die »Lächerlichkeit seiner Ausdrucksweise«, prangert die »absurden Einzelheiten des ›Parsifal‹« an und geißelt Wagners »Gesamtkunstwerke«, weil sie »die durch eine lange geschichtliche Entwickelung erreichte Differenzierung der Künste aufheben und diese auf den Stand zurückführen, den sie zur Zeit der Pfahlbauten, ja der ältesten Höhlenbewohner eingenommen haben mögen.«

 

Und Henrik Ibsen? Liefert »Hirnverbranntheiten«, das Niveau seiner Bühnenstücke »sinkt bereits unter die Menschheits-Schwelle«. Nietzsche? Leidet an »Gedankenflucht« und strotzt »von fabelhafter Dummheit«; der Doktor liest ihn daher auch »nicht zu seinem Vergnügen, sondern um die Einschließung des Verfassers in eine Heilanstalt vorzuschreiben«.

 

So geht es Seite um Seite. Émile Zola: »Auch seine Vorliebe für das Gemeine ist eine wohlbekannte Krankheitserscheinung.« Hermann Bahr: »Eine ausgesprochen krankhafte Erscheinung.« Otto Julius Bierbaum: »lächerlich«. Kurzum, die ganze Gegenwartsliteratur: ein »Krankenhaus«.

 

Die Diagnose ist eindeutig: Die glasklar festgestellten Defekte der anderen sind für Max Nordau die Lizenz, mit gutem Gewissen über alle Stränge zu schlagen. Endlich einmal muß er sich nicht vernünftig und zivilisiert am Riemen reißen, sondern kann nach Lust und Laune von der allgemeinmenschlichen Norm abweichen und darf mit seinem Gewüte und Gezeter sogar unter die Menschheits-Schwelle sinken. Aber anders als über seine Nachahmungstäter kann man über ihn wenigstens lachen.

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt