Humorkritik | Juli 2007

Juli 2007

Singende Friederike Kempner

In der Musik scheint es ja fast nichts mehr zu geben, was es nicht gibt. Und seit der Originalitätsfetisch auch den Mainstream befallen hat, wird es für den Kuriositätensammler und Liebhaber des Skurrilen und Katastrophalen doppelt schwer: Hat man im Internet oder in einer ranzigen Flohmarktkiste wieder mal einen überzeugenden Scheißsong, eine ultimative Monsterperle des schlechten Geschmacks und Rarität von erlesener Kakophonie ausgegraben, kommt meist irgend jemand mit einem neuen Knaller daher, der das mühsam erreichte niedrige Qualitätslevel noch mal problemlos unterschreitet. Johnny-Cash-Coverversionen von tschechischen Blaskapellen, sowjetische Kosmonautenchöre oder Pornosoundtracks im Stockhausen-Stil – um nur einiges zu nennen, was ich mir in letzter Zeit so anhören durfte oder mußte – sind ja auch gar nicht das Übelste, was entdeckt und reanimiert werden kann. Schnell aber findet sich noch Abseitigeres, Komischeres, Irritierenderes.

 

Drei exponierte Vertreter der Musikrichtung »Akustische Tortur, aber lieb gemeint« möchte ich loben. Daß diese drei m. E. aus dem gewöhnlichen Trashkontext fallen, liegt daran, daß sie sich wohl nicht großartig verbiegen und verrenken mußten, um etwas vollkommen Schrulliges in die Welt zu setzen. Es liegt einfach in ihrer Natur.

 

Da wäre zunächst einmal der musizierende Hypnosearzt Dr. Paul Bernard, den ein Bekannter mal als »eine Art singenden Heino Jaeger des unfreiwilligen Humors« zu titulieren sich verstieg, den ich aber, wenn überhaupt, als so eine Art Heinrich Lübke der Neuen Deutschen Welle bezeichnen würde – und das auch nur in seinen besten ­Momenten. Bernhard hat in den achtziger Jahren zwei LPs (»Mein anderes Gesicht«, »Sozusagen Liebeslieder«) veröffentlicht und scheint seitdem künstlerisch verstummt zu sein. Bernard-Songs klingen wie stark psyche­delisierte und schwer beknackte Variationen des legendären Beuysschen Gassenhauers »Wir wollen Sonne statt Reagan« und verströmen den Soul von Petra-Kelly-Betroffenheit, Anti-Volkszählungs-­Paranoia, Männer­strickgruppen und Outsider­romantik à la Mathias Rust, ins schön Doofe gezerrt durch eine beachtliche Stilblüten- und Fettnäpfchendichte in den Texten und ­abgerundet durch des Doktors vermutlich kapitalen Sprung in der Schüssel.

 

Zweitens seien die beiden »Friederike Kempners der Arie« – die tragikomischen Diven und Schwestern im verschrobenen Geiste – Mrs. Miller und Florence Foster Jenkins erwähnt. Sie weilen schon lange nicht mehr unter uns, ihr musikalisches Vermächtnis aber wird wohl unsterblich bleiben. Beide Damen zeichneten sich durch eine leidenschaftliche und unerwiderte Liebe zum Operngesang aus, und beide schienen mit beneidenswerter Blindheit gesegnet, was die realistische Einschätzung der eigenen stimmlichen Fähigkeiten betraf. Während sich Mrs. Miller in den 60er Jahren vorwiegend dem Strapazieren und Mißhandeln von Oldies verschrieben hatte (»Wild, Cool and Swingin’«), hinterließ die gute Miss Jenkins ihre imposante Spur der Verwüstung vorwiegend im Bereich der klassischen Musik (»The Glory of the Human Voice«).

 

Um alle drei Künstler wurde bisweilen ein regelrechter Wirbel veranstaltet, gelten sie doch in Liebhaberkreisen als Meister der unfreiwilligen Komik, Selbsterniedrigung und Peinlichkeit. Wer vom unbedingten Willen zum Leiden durchdrungen ist, dem seien die drei wärmstens ans Herz gelegt.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt