Humorkritik | Dezember 2007

Dezember 2007

Gäste aus den Fugen

Das Fest, das entgleist: das war schon eine von Dostojewskis Spezialitäten. Allerdings nicht seine Erfindung. Ausgefuchste Mediävisten wissen, daß bereits im Spätmittel­alter der Konstanzer Advokat Heinrich Witten­wiler in seinem Versepos »Der Ring« eine Bauernhochzeit schilderte, die komplett aus dem Ruder der rechten Weltordnung läuft; und klassische Philologen können sogar mindestens zwei antike Autoren nennen: Petronius, der in seinem »Satyricon« vom Gastmahl des Trimalchio berichtet, und, noch schöner, Lukian. Dessen kleines Meisterwerk heißt »Symposion« und parodiert Platons »Gastmahl«. Schon die Spitznamen der Philosophen, die an diesem »bunten Abend« teilnehmen, werfen ein schiefes Licht auf ihre Träger: Ein Denker wird »das Labyrinth« tituliert, ein anderer heißt »der Maßstab« (»im Hinblick auf die Richtigkeit seiner Ansichten«), dann kommt ein dritter mit einem »flotten Mundwerk, der immer alle Argumente widerlegt: ›Das Schwert‹ nennen ihn seine Schüler oder ›das Hackmesser‹.«

 

Hübsch langsam hebt das Fest an, aber dann beschleunigt es rasant, bis alles aus den Fugen gerät. Viel wichtiger nämlich als ihre klugen Worte über Ehe, Reichtum, ­Tugend und Laster usw. sind den versammelten Stoikern, Kynikern und Epikureern die aufgetischten Leckereien, bei denen sie eifersüchtig darauf achten, nicht zu kurz zu kommen; sie sprechen dem Wein zu, ­werden laut und bald auch ausfällig, werfen einander vor, Schüler zu bestehlen und deren Ehefrauen zu verführen, bis sich außer den Reden auch die Sitten lockern, und ­»Alkidamas, dieser wunderbare Mensch, schlug sogar mitten im Raum sein Wasser ab«. Die weisen Geistesriesen lassen buchstäblich die Hosen bzw. den Griechenrock runter, bis »die besten Köpfe« sich mit Trinkbechern bewerfen und eine Schlägerei ausbricht, in der einer seinem Widersacher ein Stück von der Nase abbeißt, während ein Besonnener, der schlichten will, einen Tritt »mitten in das Gebiß« empfängt.

 

1800 Jahre ist diese wunderbar in »Chaos und Tränen« endende (und von Jula Wildberger neu für Reclam übersetzte) Philosophensatire bereits alt – aber wenn man sie liest, möchte man meinen: Die ist doch höchstens 1700! Jedenfalls nur ganz knapp jünger als – Ihr Mentz.

  

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Briefe an die Leser

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg