Humorkritik | Oktober 2006

Oktober 2006

Hinrichtung eines Sonderlings

Daß Patrick Süskind anläßlich der Verfilmung seines Romans »Das Parfum« von der Journaille wegen kompletter Medialverweigerung wieder streng gemaßregelt werden würde, war mir schon vorher klar. Doch nicht Gala, nicht Bunte schossen dabei den Vogel ab, nein, den Haupttreffer landete die Süddeutsche. Herr Alexander Kissler durfte auf einer halben Seite das Psychogramm eines »weltentrückten Sonderlings« zeichnen – was allein schon fast eine Todsünde ist, weil »Sonderling« seit Karl Valentins gleichnamigem Film, seit 1929 also, eine Ehrenbezeichnung sein müßte.

Doch der SZ-Mann hat kein Einsehen, Süskind ist ihm hochgradig verdächtig: vor allem wegen des mutmaßlich exorbitanten Gewinns mit seinem einzigen Bestseller, was angesichts des insgesamt für »schmal« befundenen »Œuvres« irgendwie doppelt ungerecht zu sein scheint. Doch dann kommt erst die Keule: Der Autor Süskind teile mit seinem berühmten Helden, dem »Parfum«-Mörder Jean-Baptiste Grenouille, »ein universales Grundgefühl: die Angst«. In dieser psychiatrischen Zwangsjacke wird Süskind dann noch etliche Spalten lang vorgeführt.

Klar, daß auch der Protagonist der Novelle »Die Taube« noch in die Süskindsche Krankenakte aufgenommen wird, denn der will sich »die Menschen vom Leibe halten« – worin man gleichfalls wieder sehr schön den Autor erkenne. Der »verschrobene Musiker« des Einakters »Der Kontrabaß« fällt dieser Beweisführung da schon fast in den Schoß. Die Fakten, die gegen Süskind bzw. für seine Psychiatrisierung sprechen, sind bei alledem sehr übersichtlich: Der Mann hat sich seit zwanzig Jahren nicht mehr ablichten lassen, er hat nur vier Interviews gegeben, und vor allem: Er hat nach seinem unglaublichen Erfolg von 1985 nicht jedes Jahr einen Folgeroman abgeliefert.

Immerhin, da ist der SZ-Redakteur dann gnädig, stehe für den Autor, bei aller evidenten Wesensgleichheit mit dem angstgebeutelten Mörder Grenouille, »ein solches heillos dramatisches Ende wohl nicht zu befürchten«. Ja, der Zeitungskritiker stellt dem Autor zum Ende völlig unverhofft sogar so etwas wie Heilung in Aussicht.

Warum ich diesen peinlichen Fall von Iden-tifizierung eines Autors mit seinen Figuren so ausführlich referiere? Nur aus einem Grund: Der Psychosteckbrief des Patrick Süskind, der hier an die Wand genagelt wird, kann beim verständigen Leser nur ein entrü-stetes Lachen auslösen – da Kissler die beiden besten Taten Süskinds peinlichst ausspart und verschweigt: die Drehbuchmitarbeit an »Monaco Franze« (1983) und »Kir Royal« (1986), den bisweilen komischsten Fernsehserien der deutschen TV-Geschichte. Denn mit ihrer Erwähnung hätte der Kissler eingestehen müssen, daß auch ein nicht klatschspaltenkompatibler Autor erstklassige Komik schreiben kann; und daß ein vom höheren Feuilleton als Sonderling erkannter Mann nicht unbedingt den Trieb in sich spüren muß, Jungfrauen hinzumorden.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt