Inhalt der Printausgabe

Dezember 2005


Jerofejew vs. Erofeev
Humorkritik-Spezial
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Der komische Jerofejew (1938-1980)
Der komische Jerofejew
(1938–1980)
 
Eigentlich müßte ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein. Mein allerliebstes Lieblingsbuch liegt (bei Kein&Aber) in einer brandneuen Ausgabe vor, und zwar in einer, die sich per Umschlagbanderole äußerst selbstbewußt als die einzig wahre und gültige ausgibt: »Das russische Jahrhundertwerk über eine Fahrt ins vermeintliche Paradies heißt ab sofort: Moskau – Petuki.« Bislang kannte ich das Buch in der Übersetzung von Natascha Spitz als »Die Reise nach Petuschki« und den Autor als Wenedikt Jerofejew; der wiederum heißt offenbar ab sofort: Venedikt Erofeev. Peter Urban, ein ausgemachter Kenner und renommierter Übersetzer russischer Literatur, hat die 170 Seiten nicht nur neu übersetzt, sondern auch um einen ausführlichen Kommentar, ein umfassendes Nachwort und eine kurze biographische Notiz des Autors ergänzt. Der mir als hochgescheit bekannte Uwe Wittstock zeigte sich in der Welt hochzufrieden: »Urbans deutsche Fassung von ›Moskau – Petuki‹ ist eine philologisch hochseriöse und zugleich für den Leser hochkomische Lektüre.« Und? Bin ich nun also der glücklichste Mensch auf der Welt? Iwo. Durchaus nicht. Keineswegs. Mitnichten.
In seinem Nachwort spricht Urban eingangs von »einem der größten Bücher der neueren russischen Literatur überhaupt«, und das ist auch schon der einzige Satz, dem ich beipflichten kann. Was folgt, ist der groteske Versuch, einem herausragend komischen Text die Komik abzusprechen: »Als das Buch 1978 in deutscher Übersetzung erschien, wurde es aufgefaßt (...) als ›urkomisches Buch‹. Mit anderen Worten: Der Text wurde allenfalls an der Oberfläche wahrgenommen. (...) Überlesen hatte man wohl (...) die Widmung, in der Erofeev sein Gedicht ausdrücklich ›tragische Blätter‹ nennt.« Wer wird hier so rüde abgewatscht? Kein Geringerer als mein verehrter Kollege Hans Mentz, denn er war es, der als erster hierzulande die Empfehlung ab- bzw. den Befehl ausgab: »Ungewöhnlich komisch! Kaufen! Lesen! Lachen!« (TITANIC 12/1980) Übersehen hat Urban wohl, daß es erstens uneigentliches Sprechen und zweitens Tragikomik gibt, es also durchaus menschenmöglich ist, etwas Komisches zu verfassen und als »tragische Blätter« zu bezeichnen.

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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg