Inhalt der Printausgabe

März 2005


"Das ist Antennen-Holocaust!"
(Seite 2 von 2)

Hinter dem streng riechenden Revolutionär betrete ich die enge Küche. Preßspanhängeschränke, Kohleherd, vier grünbraune Seventies-Tapetenbahnen hängen von der schimmeligen Wand. "Veruschka, sag dem Zeitungsfritzen Tach und gib uns was." Ein halbfrisches toupiertes Blondie in gelbem Ganzkörperkostüm sitzt am Plaste-Küchentisch und pellt Kartoffeln. "Tach", haucht sie lebensmüde und muß nicht aufstehen, um zwei rote Flaschen aus dem Kühlschrank zu fingern. "Glas?" Ihr Mann antwortet für mich: "Ne, laß ma'. Müssen wir nich' so viel spülen. Dieser ganze Haushaltsholocaust geht mir auf den Senkel! Übrigens könnense se haben. 6,99 mit Präser, ohne sieben, original Ukraine. Schreibense das bitte auch in Ihrem Journal!"
"Versprochen", sage ich und suche vergebens nach einem Stuhl. "Aber danke. Dienst ist Dienst." Beleidigt kleidet sich die Apfel wieder an, stampft auf den Kartoffeln herum, streicht den Brei auf den Wandschimmel und pappt die Tapeten drüber. Fachmännisch nickt mir Apfel zu: "Altes Hausmittel. Zieht die Feuchtigkeit blitzschnell", halluziniert der Arier, öffnet den Kühlschrank, stellt dem knurrenden Filius ein Schälchen Chappi hin und setzt sich wieder - pfffffrrrrhhh!
"Wer war das?!!"
Außen pfui - innen hui: die Heimstatt der Familie Apfel
Die Ehehure will etwas wie grinsen, da schallert ihr der Superpatriot aufs Maul. Bilanz: ein Schneidezahn weniger, ein mitplärrender Apfel junior mehr. "Mich ausgerechnet vorm Reporter lächerlich zu machen - der reinste Furzkissen-Holocaust! Aber egal, jetzt kommt ›Vera am Mittag‹. Am besten, Sie kucken einfach mit. Verüschken, noch mal zwei und dann huschhusch auf die Pritsche. Bello, laß noch was für morgen über!"
"Wuff, wuff, wuff! Grrrr…!"
Hinter der streng riechenden Gelben betrete ich die gute Stube. Sie kommt mir enger vor als die Küche und fungiert sichtlich als Wohn-, Schlaf- und Sexareal der Apfels: Sieben zweireihig gestapelte Fernseher grenzen an die schiefe Couch, deren mit dem Reichsadler bestickte Tagesdecke sich im Deckenspiegel spiegelt. Und leider muß man sagen: leider spiegelt, denn so sind die Kackeflecken prima doppelt zu bestaunen. Stinken tut es auch! "Haben Sie denn keine Toilette?" frage ich den Staatsfeind, während sein geheimnisvolles Hundkind durch meine armen Beine geradewegs hoch auf den Adler krabbelt und - bsssssss…
"Nich'." Mit ihrem immerhin schon dritten Einsilber wischt die Apfel-Muse das undichte Körperchen vom Liebeslager, macht es sich gemütlich und die Fernseher an - mit einer Fernbedienung! "Hab ich alle kurzgeschlossen!" schnauft der nationale Demokrat und hakt sich kuschelnd unter. Als ihre Hand in seine Hose rutscht, schäm' ich mich ein bißchen, wende mich ab und kucke hockend nägelkauend "Vera": Zwei Mitglieder einer sadopädophilen Neonazigruppe weinen bitterlich, weil der Stadtrat sich seit Jahren gegen eine steuerfinanzierte Clubetage im Dresdner Hygienemuseum sperrt, dann plötzlich: Stille. Schwarz. Sendestörung!
"Aah! Gottverdammter Antennenholocaust", brüllt es hinter mir, "wahrscheinlich wieder dieser Monsun, dieser Mossad, diese Iwan-korrumpierte Wallstreet!", ein regelrechter Anfall diesmal, "diese jüdischen Sat-Schüsseln hier auf diesem Scheißhaus gröööhh!", energisch, kraftvoll, ja viril, die Pritsche quietscht und rumpelt jedenfalls, kurz drauf macht Holger aah und oohhh und zweimal aah, Veruschka fragt ihr "Fertig?", und ich bin gerne Reporter, aber so ein Interview hab' ich selten erlebt! Mitfühlend zähle ich bis drei, dann fällt mir endlich eine Spitzenfrage ein: "Hitler, Herr Abgeordneter Apfel, wird heute vorwiegend kritisch betrachtet. Was, glauben Sie, sind die Grün…" "Schnauze, rote Sau!"
Im Salon werden Tee und Gebäck gereicht
Mich umdrehen und den entblößten dicken Apfel wutschnaubend über mir sehen ist für bange zwei Sekunden eins, dann aber Glück im Unglück: Staubend bricht die nackerte Systemfeindtonne durch die Dielen und verdrückt sich Richtung Keller - plumps. Holzdielenholocaust? Weit gefehlt: "Öörgh! Ohh! Dieser Obermist von Altbau-Shoah! Verüschken, tu was! Rette mich, oder ich schick dich in den Puff zurück! Auaaa!"
"Och", macht die Geschwätzige, wirft sich den bekackten Reichsadler über, hüpft dem Deutschlandaktivisten hinterher und vermutlich auf ihn drauf: "Aua!" höre ich erneut und "Das ist… Apfel-Genozid, du Stalinhexe! Hilfe! Völkermord! Polizei! Bello, komm endlich zu Herrchen! Und du, Reporter, schmeiß mal zwei Alcopops runter, wir bleiben hier, is' urgemütlich. Oder gibt's noch was zu fragen?"

Nein, denke ich und versinke im Anblick der Kakerlaken, die mit dem Dielenbruch ihr Nest verloren haben und nun tausendstark ausströmen. Der Kampf für Deutschland, denke ich, als ich später in die Küche gehe und allerlei Kartoffelbrei von meinem Mantel kratze: der Kampf für Deutschland ist eine gewiß abenteuerliche und doch auch bizarre, ja: teils fremde Welt, eine, in die ich gerne schaue. Auf der Straße riecht es nach überfahrenen Katzen.


Thomas Gsella



    1 | 2


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt