Inhalt der Printausgabe
September 2006
Selbstgespräch (Seite 2 von 2) |
Ein paar Tage später reise ich, diesmal nicht mit dem Computer, sondern mit dem Auto, wieder zum Suchort – genauer: zu einem mexikanischen Gartenrestaurant am Bahnhof Schwabach-Limbach, neben einer Sparkassenfiliale, auf deren Parkplatz das Parken den Kunden vorbehalten ist. Tante Irmi wird achtzig, und der halbe Familienclan sitzt schon im Garten beim Bier, weil er keinen langen Anfahrtsweg hatte, sondern nur von der Wald-und-Wiesen-Kanzlei, der Vorstadtapotheke oder aus dem Vorstandsbüro der örtlichen Schraubendreherei vorbei am Schwabacher Stadtpark, der berühmten »grünen Lunge« der Stadt, den Douglas-, Nordsee-, Karstadt- und Zara-Filialen und vorbei am Opatja-Grill nach Limbach fahren mußte; ein Weg, den der Daimler zur Not auch von allein findet, wenn das Hirn des Fahrers nach der gewohnten Druckbefüllung auf 2,6 Promill den Dienst quittiert hat. Die Erde scheint sich am Anfang des 21. Jahrhunderts immer schneller zu drehen, überall E-Mails, SMS und Coffee-to-go; das soll Zeit sparen, ist aber in Wirklichkeit nur zeitraubend. Da sehnt man sich total nach Entschleunigungsoasen, und Schwabach ist so eine Entschleunigungsoase. Hier nimmt man sich noch Zeit. Bei »El Condor pasa« bestellt man nicht per E-Mail und trinkt im Sitzen, nicht im Laufen. Auf der Speisekarte stehen immer noch die gleichen traditionellen Gerichte wie vor zwei Jahren: Tacos, Burritos, Enchiladas, Wraps mit Hühnchen oder Thunfisch, Pollo Burrito, Guacamole, Jalapeno Poppers, Nachos, Chimichanga de Carne Deshebrada, Chiles Rellenos con Carne, Costillas de Cerdo, Buffalo Wings, Chuleta de Ternera, Higado de Ternera und Bife Alambre. Die Portionen sind riesig, wie es sich gehört, und wer die Rechnung haben will, wartet erst mal eine Stunde und kriegt dann einen klebrigen Billiglikör zum Runterspülen. Die Wände sind orange geschwammt wie in jeder Kneipe und in jedem Restaurant der Stadt außer den griechischen. Da sind sie blau geschwammt. An den Wänden hängen Sombreros, und am Tresen sitzt ein ausgestopfter Mexikaner. Ganz Deutschland ist in der modernen Unübersichtlichkeit angekommen. Nur in der Provinz ist Deutschland noch ganz bei sich selbst. Darum habe ich mich neulich auch gefreut, als ich zurückgekommen bin in meine Heimat: Weil das Heimatgefühl in mir aufstieg wie giftige Dämpfe bei einem Schwelbrand im Kunstdüngerlager, und ich dachte: Jetzt werde ich einen elenden Riemen mit vollständig banalen Alltagsbeobachtungen schreiben, einen haarscharf kalkulierten Provinzkitsch für all die diffus deutschlandbegeisterten und totalverblödeten Trottel in unseren verkommenen Großstädten. Aber dann war Florian Illies leider doch wieder schneller. Oliver Nagel |
1 | 2 |