Inhalt der Printausgabe

September 2006


Humorkritik
(Seite 7 von 7)

Ingtheit, Lertheit, Unkelung
Auf einem Bücherflohmarkt habe ich aus einer großen Kiste heraus zehn Bücher gekauft. Für zwei Euro insgesamt. Das ist eigentlich noch nicht weiter schlimm oder erwähnenswert. Darunter war aber eine Schrift aus dem Verlag Freies Geistesleben, mit dem Titel »Cultura. Zehn Essays von Fritz Götte«, erschienen im Jahre 1952. Eine Sammlung von Aufsätzen, in denen sich der Verfasser laut Vorwort die Aufgabe stellt, Sinnesbeobachtung und Denken an geringen, ja verachteten Gegenständen unseres Alltags zu üben und ihre Idee, den ihnen innewohnenden Geist zu entdecken.
Als »geringe, ja verachtete Gegenstände« galten dem überaus aktiven Mitarbeiter anthroposophischer Verlage und Zeitschriften die Hand, der Bergbau, das Eigentum, aber auch der Hammer und die Biene. Ein erster Blick hinein entbarg mir auf Seite 101, Kapitel Biene, den Satz: »Der süße Honig erkraftet den Menschen in seinem Ich bis in seine leidenschaftgetrübte Leiblichkeit hinein.« Ich geriet in einen gelinden Zustand der Erschüttertheit, klappte zu und dachte sofort: Du mußt etwas dagegen unternehmen. Sonst ergreift das Steinersch begeistete Geschwiemel eventuell Besitz von dir. Solche Formeln wie »leidenschaftgetrübte Leiblichkeit« rühren nämlich oftmals »tiefste Fragen« nach der »menschlichen Daseinsbedingtheit« auf.
Und wirklich: Am nächsten Tag las ich ein FAZ-Interview mit Christoph Schlingensief. Was er mache, habe »mit Kunst zu tun, mit Theatralik, Theater, gleichzeitig der Öffnung und Erweiterung von Theater. Das Thema ist Unerlösbarkeit.« Genau, die Unerlösbarkeit. Auch der Philosoph Hinrich Knittermeyer rechnete sie unter die »Grundgegebenheiten des menschlichen Daseins«. Obwohl doch der Mensch in all seiner »Personhaftigkeit« (F. Heer) seine paar Erdentage eigentlich in »erlösungsbedürftiger Geschaffenheit« zubringt. Oder sogar im »Gnadenstand der Auserwähltheit« (T. Stift).
Th. Lessing hörte ganz persönlich gar den »Qualenschrei der Nichterlösbarkeit«, ausgestoßen »in götterlos gewordener Naturtatsächlichkeit«. Bzw. in »tiefster Seinsverdunkelung« (Heidegger), »existentieller Ausgesetztheit« (J.L. Atkinson), »transzendentaler Obdachlosigkeit« (H.E. Holthusen), »kosmischer Preisgegebenheit« (E. Meister) oder sogar dem Unterstelltsein unter die »Zollbehördlichkeit« (Ringelnatz).
Jaja, »das Diadem der Gottentstammtheit« (H. Conradi) ist im Pfandhaus, der »Gotterfülltheit«, laut Plotin eine »ekstatische Erhebung«, die Luft ausgegangen, »Gotteskindschaft« (Tolstoi), »Gottesteilhaftigkeit« (W. Hellpach), »Ebenbildhaftigkeit« (Broch), »Gottähnlichkeit« (Mephisto) und »Gottebenbildlichkeit« (Ratzinger) sind mit den Jahren eher zweifelhaft geworden. Auch wenn der Mensch eventuell, wie etwa Schlingensief, »schöpferische Welt-Ergriffenheit« (Dr. Ewalt Kliemke) beweist, sich als »Prachtexemplar der unbefiederten Zweibeinigkeit« (Nestroy) geriert und dabei zwischen den »Polen der Daseinsalarmiertheit und der Lebenserschlaffung« (P. Straßer) unterwegs ist, bleibt er doch »dunkler Schicksalsverflochtenheit« unterworfen.
Womit wir im Bereich der heideggerösen »Schlechthinnigkeit der Daseinsunmöglichkeit« wären. Dem »Hineingehaltensein«, der »Seinsverlorenheit«, der »Todverfallenheit«. Das Bekenntnis zur »Unerlösbarkeit« sei jedoch »nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum Leben«, so Schlingensief im FAZ-Interview. Bzw. ein »Ja zur Kreatürlichkeit« als Abart christlicher Güte, um es direkt pastoralreferentiell zu sagen.
Es scheint, daß wir im »Welthorizont des menschlichen Selbstvollzugs« (H. Thielicke) stecken bleiben und uns dem Muff-Geist der Aftigkeit, Barkeit, Entheit, Lngtheit, Iertheit, Ierung, Lichkeit oder Unkelung nicht entziehen können. Gerade jetzt, wo die »Grundbefindlichkeit« des deutschen Volkes, dem man insgesamt eine »Klinsmannisierung« angedeihen lassen will, in einem Zustand der »Unverkrampftheit« vor sich hin köchelt, nimmt die »Faselhanshaftigkeit« (Kierkegaard) weiter zu, womöglich bis »ein Zustand der Betrunkenheit« (I. Kant) erreicht ist. Obwohl die »Grenzen der Wollbarkeit« (H. Meyer) für dieses Vokabularium der wirrwarrqualligen »Behauptenheiten« (Hölderlin) längstens überschritten sind. O diese »irdische ärmliche Beengtheit« (E.T.A. Hoffmann)!




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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick