Inhalt der Printausgabe

Januar 2006


Humorkritik
(Seite 4 von 7)

Dummbilanz 2005
»Dieses Jahr war ja so hammermäßig gut thematisch – ich kann mich nicht erinnern, daß es schon mal so dicht gekommen wäre. Also Mosi, Papst, Neuwahl, Münte« (Harald Schmidt zum Ausklang) – stimmt, und sofern man »dicht« für undicht nimmt und auch vielleicht »hammermäßig gut« beidem zuzählt: Für die Dummbilanz war 2005 gleichfalls ein ganz prima Jahr.
1. MosiAbleben: Da bezauberte vor allem die totale Unentschlossenheit zwischen Trauerwilligkeit und letztlich siegendem FunspaßZwang.
2. Papst: Auch hier konnte man sich beim Hinschied kaum entscheiden zwischen Jammer und Vergnügen. Ging einem beim sich hinziehenden Siechtum das ewige Arschgerede vonwegen »Popstar« (FAZ) Wojtyla und dem »Wunder dieses Papstes« (ebd.) auf den Keks, mit der Klimax einer schon unbegreiflich depperten SpiegelTitelgeschichte »Der Jahrhundertpapst«; so auf Ostern hin und nachher das Simulacrum der Simultanität von Tod und Leben: »Es lebe der Papst!« wurde noch zu Lebzeiten des Polen bereits der Nachfolger begrüßt; in einem wahrhaft Paul Virilioschen Akzelerationsvorlaufzwang verstieg sich zumal das extrem frömmelnde Bayerische Fernsehen schon am 1.4. und zwei Tage vor dem Todeszeitpunkt zu ununterbrochenen Rückschauen auf Wojtylas aktive Zeit – man konnte wie behext es kaum erwarten –, und als dann wenige Tage später Ratzinger dran war, ging es weiter mit nimmermüdem Pressezauber vom »Rottweiler Gottes« bis zu »Joe, the Rat« – einigermaßen lustig immerhin der SchmierblattTitel »Papa Ratzi« (Sun); nur entging den auf Ratzis Hitlerjugend geilen Engländern ganz und gar, daß der PapstGeburtsort Marktl nur ein paar Kilometer oberhalb von Braunau liegt: der Inn ist da sehr schnell, als tüchtiger Krauler konnte der junge Ratzinger die Strecke in einer halben Stunde packen.
Kurz vor seinem Ableben war eine Denkschrift Wojtylas zutage getreten, die noch rechtzeitig Paul Spiegel prompt auf der Lauer sah und nämlich den »unzulässigen Vergleich zwischen dem Holocaust und Abtreibungen« zurückweisen hörte. Dann aber kam es zu Ratzingers flottem Start, und alle Mißstimmung war erst mal wieder vergessen. Am besten brachte es jener bekannte Kardinal Meisner auf den Punkt, der noch im Januar in der WojtylaSache den JudenZentralrat »unsäglich und beleidigend« (so dieser) empört hatte – jetzt aber die rechten Worte fand: »Es herrschte eine Bombenstimmung« nach der RatzingerWahl im Konklave, sowie: »Ich habe geweint wie ein Schloßhund« – und besser kann man es als Kardinal eigentlich gar nicht mehr sagen. Höchstens gleich gut. Wie jener BR-Reporterschreihals am 18.8. beim Kölner Weltjugendtag: »Es ist Lebensfreude pur«, was hier im Verein mit Benedikt XVI. am Rheinhufer sprudle; in Wahrheit war es eher die Goebbelssche »Stunde der Idiotie«; und das im Kainszeichen der BildAufmacherzeile »Alleluja – der Papst ist los!« einzig Sympathische und fernsehlich erkennbar Zurechnungsfähige war ein liebebedürftiger Polizeihund im leidenschaftlichen Clinch mit seinem Herrchen. Und ohne sich um den Gast aus Rom ein Deut zu scheren.
3. Neuwahl: War Schröders berühmter FernsehElefanten-Auftritt am 18.9. nun dümmlich, furzdumm oder bloß ein bißchen »zu krawallig« (Doris SchröderKöpf)? Gleichviel, das Ganze wurde ja dann eh vom
4. Doppelschlag Münte/Stoiber am 31.10./1.11. in den Schatten verwiesen; wobei vor allem der bisher als gewieft geltende CSUFührer eine schon besorgniserregend eindrucksvoll desorientierte Bauchrolle nach der anderen hinlegte, sich ununterbrochen bei irgendwem (Partei, Volk, Ratzinger, Wähler) dafür entschuldigte und endlich am 14.11. auf dem Parteitag mitteilte, er, Edi, »leide wie ein Hund« – damit hörbar in reziproke Konkurrenz mit Kardinal Meisner tretend.
Noch nicht ganz vergessen vor dem derart rasenden Bundes-NeuwahlPanorama sei eine Neuwahl in Kiel kurz vorher, angesichts deren Verlust und des »Dolchstoßes« irgend so eines parteieigenen »Lumpen« oder gar »Schweins« die betroffene Frührentnerin Heide Simonis sich nun schon überhaupt nicht mehr einkriegte. Wenig später kam es zu den KiewUnruhen um jenen Außenminister Jockel Fischer, der aber schon am 1.1.05 angesichts des furchtbaren asiatischen Tsunami fest versprochen hatte, »durch Handeln in Echtzeit im globalen Maßstab« zu helfen – was immer der damals noch demoskopisch ästimierteste deutsche Spitzenpolitiker – damit an (Schweizer? japanischem?) Nanotechnologievorsprung gemeint haben könnte, kurz nach seinem Regierungs und mithin Amtsverlust brachte sich Jockel mit seiner fünften Ehegründung in Rom (aber ohne Ratzi) ein wohl letztesmal in Erinnerung, die Neue wollte offenbar noch ganz schnell Frau eines Außenministers im Rahmen eines Volks von »Souveränen und Souveräninnen« (Jockel am 1.7.) werden; ehe mit dem Regime Merkel laut Hans Olaf Henkel die »Reform der Reformierbarkeit Deutschlands« kraft des Abstreifens des bisher »blockierenden ewigen Schuldkomplexes wegen 1933 bis 1945« verifiziert oder inauguriert oder ratifiziert wird oder was auch immer – meingott, was speziell von unseren alten Jazzliebhabern doch fast täglich Visionen, Utopien, ja Reformreformierbarkeiten entfackelt und dann entfesselt werden, irgendwie könnte das G’schwörl 2006 doch noch der 2005 immer beliebter werdende Schlaganfall am Kopf oder wenigstens Sack streifen.
Rolf Hochhuth andererseits war es, der sich zu Jahresbeginn ein Herz nahm und als gelernter Zeithistoriker sowie im Zuge seiner alten Freundschaft mit David Irving vonwegen der Holocaustleugnung allesaberauchalles durcheinanderbrachte, nun, das ist eben die legendäre Freiheit der Andersdenkenden – gut erholt dagegen zeigte sich nach seiner leidigen NaziEnttarnung vom Vorjahr Walter Jens, Tübingen, der 2005 nichts mehr anbrennen ließ, sondern vielmehr im Verein mit seiner Ehefrau Inge nach dem schönen Erfolg von beider Katia-MannBuch einfach mit einem Bestseller über Katias Mutter Pringsheim weitermachte; eigentlich könnten die beiden (zusammen ca. 189) jetzt, einmal im Schwung, »mit Fontanescher Gelassenheit« (W. & I. Jens) 2006 mit Katias Oma Orschloch fortfahren und den vom deutschen Volk hingerissen aufgenommenen Quark zur Trilogie runden.
Walter war es im Herbst gleichzeitig und wie in übergroßer Drangsal des speziell Tübinger Weltgeists auch noch vergönnt, vom Heimatblatt mit seinem zum neuen Papst vorpreschenden Kumpel Küng fotografisch verwechselt zu werden und insofern, wie schon Thomas Mann, im Prinzip eine Audienz beim »Stellvertreter« (R.Hochhuth) in Rom erwirkt zu haben. Katias Leben aber soll leider erst 2007 mit Inge Meysel sel. für Guido Knopps Privatfernsehen verfrühstückt werden.
Zu einem SkiStaffellanglauf am Düsseldorfer Rheinufer kam es mitten im Spätsommer und übertragen stundenlang von der ARD, im Vergleich zu dem sich der auf dem Petersplatz und in der Sistina entflammte Unfug als die reine zauberische Romantik, ja fast als Weltvernunft vorstellte – als das dümmste Volk der westlichen Welt hat sich vor den Italienern und Westfalen gleichwohl doch das ohnehin gottlose Schweizer nobilitiert: durch die von ihm 2005 heftiger denn je zuvor vorgetragene Vision eines neuen Alpentunnels von 57 Kilometern Länge und 800 Meter unter dem Gotthard, welcher angeblich die Fahrt ZürichMailand von fünf auf zwei Stunden verkürzt, in welcher gesparten Zeit die Geschäftsleute in einer Wartehalle in Stazione Centrale Milano dann schnell ficken oder wahlweise wichsen dürfen – und der vor allem die jetzt schon 2400 km Tunnel in den Alpen unter Beseitigung von 24 Mio. Tonnen Schutt beachtlich vermehrt. Das treue Hängen an der Idee Röhre/Loch imponierte sogar dem Schweizer Reporter der Zeit, wenn er die Verantwortlichen zitiert und voll d’accord bilanziert: Wir werden das Loch bauen, weil man es bauen kann.
Für Focus ist »neoliberal« das »Schimpfwort der Saison«; als Dumm und Unwort aber hat sich neben »fokussieren« auf die zweite Jahreshälfte hin immer eherner »auf Augenhöhe« (Merkel-MünteVerhandlungen, Bayern-Bremen, AgassiSteffi usw.) auf Augenhöhe mit jenem eingerichtet – konkurriert noch von einem steinalten Bekannten, der schon in der Dummbilanz 1998 in diesem Blatt Spitzenreiter war: »spannend«. Auf praktisch jetzt allen Sektoren (Wahlkampf, Abstiegsfrage, Papstnachfolge, Stoiberrückkehr, Düsseldorfer Skilanglauf) galt und gilt: »Es bleibt weiter spannend«; für die SZ vom 12.10.2005 war es sogar so, daß auch »die Geschichte des berühmten Genter Altars spannend bleibt« – jedenfalls in der Überschrift im Feuilleton –
– das sich aber sonst deutschlandweit restlos auf die relativ unschuldige Anna Netrebko fokussiert und eingefickt hat, meist jetzt im »Traumpaar«Verbund mit Rolando Villazón und in der nimmersatt mindersinnigen Endlosweiterverwurstung der Salzburger »Traviata«. So genau die schöne Russin dabei weiß, was sie will: absahnen, was geht, und dabei sogar noch prima singen – nicht ist das der neuen Ophelia der Münchner Kammerspiele, Katharina Schubert, vergönnt, die sich im Radio kummervoll fragt: »Sieht man das überhaupt, was ich so mache, nämlich nicht das Leid zeigen, sondern den Kampf, der irgendwas Positives ist – oder wird das nicht so wahnsinnig bemerkt?« Isoldes Leid in Wagners Oper wurde 2005 bei der Eröffnung in Bayreuth sogar noch in oder gerade wg. der brunzdummen Neudeutung durch Christ. Marthaler wie wahnsinnig bemerkt, sowohl von der erstmals und etwas verschwitzt auftretenden Baldkanzlerin Merkel als auch von der dort schon routinierten und zuständigen »Bundesempörungsbeauftragten« (Christian Bommarius) Claudia Roth, welche sich jedoch wegen der drei Akte lang sich steigernden zynischmenschenverachtenden Fehlkostümierung der irischen Maid – scheint’s gerade nicht empörte; vielleicht ist der Marthaler ja bei ihr irgendwie Parteimitglied.
Oder weil ansonsten 2005 ein Triumphjahr für die Frauen war, namentlich im Namentlichen. Eine »Kunigunde BiernothLüdekeDalinghaus« aus Wildeshausen fand sich da in sportlichem Wettstreit mit nach unseren Unterlagen »Tanja BallyStuhlsatz« aus TholeyTheley; »Dr. med. Friedlinde FrischFetzer« fetzte sich schönheitsmäßig mit »Mercedes Orellana CalderonObermair« (ehem. Uschi?) um den oder das Primat abseits der Netrebko; »Gerda DickGroß« rang knapp, aber verdient »Angela DickeLinke« nieder und wies dann auch noch »Elfi GroßeFlasche« aus Wülfrath in ihre Grenzen; indessen »Anja DudelNeujahr« ebenso an »Rosi JodlFick« scheitern mußte wie sogar die Mainzer ShakespeareForscherin »Hildegard Hammerschmidt-Hummel« an »Ilka FreibergOttovordemgentschenfeld«; während der Titaninnenkampf zwischen den zwiefach ehrvergessenen »Helfriede Höschel-Frauböse« und »Birgit BaudendistelBradenbrink«, der berühmten Leiterin des Singkreises St. Bonifatius Herbrechtingen, bei Redaktionsschluß noch fortwährt.
Ja, vornehmlich sprachkulturell blieb es anno domini 2005 einerseits hundemäßig spannend, ging es andererseits windhundartig vorwärts: 90 Prozent der Teenager besitzen jetzt ein Handy; »Bettina Sattari Knauer-StülpnagelPomarius« ist ab sofort für »Joga und bewußtes Atmen« reichszuständig; und der neue Präsident Köhler freilich hat empfohlen, daß jetzt an Schulen »wie früher« wieder mehr Schillers Balladen auswendig gelernt werden sollen.
Und das ist gar kein so dummer Rat.



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg