Inhalt der Printausgabe

Februar 2006


Humorkritik
(Seite 7 von 8)

Die Tücke des Objekts

»Die Tiere sind ungeheuer neugierig wie leere Menschen. Lieber Gott, was sollen sie auch tun, womit ihren Tag ausfüllen!« – »Wenn du einen Besuch erwartest und er kommt lange nicht, so nimm kalt Wasser in den Mund.« – »Jetzt hat mir’s heut nacht geträumt, ich komm’ an den See und frag’ ihn: ›Herr See, womit beschäftigen Sie sich?‹ Jetzt hat der See gesagt: ›Ich beschäftige mich damit, naß zu sein.‹ Ist das nicht ein wenig grob?« – »Höhere Tiere, gebildete Haustiere können doch recht affektiert sein.« – »Wenn ich irgendeine Amtsrechnung prüfen soll: ich weiß wohl, daß zweimal zwei vier ist; aber könnte es denn nicht ausnahmsweise einmal, zum Beispiel heute vormittag, fünf sein?«
 So könnte man noch lange fortfahren und aus diesem Ungetüm von Roman eine komische Stelle nach der anderen klauben: aus Friedrich Theodor Vischers Roman »Auch Einer« nämlich, der ein Steinbruch ist voll exzentrischer Gedanken, kauziger Dialoge und absonderlicher Begebenheiten. Im Mittelpunkt dieses einst vielgelesenen Buchs, das ausgerechnet im nützlich denkenden, zweckmäßig handelnden, geregelt lebenden Bürgertum (s.o.) beliebt war, steht ein hochgradig verschrullter Charakter, der als »Auch Einer« titulierte Albert Einhart. Nicht nur gehen ihm unentwegt grillenhafte Meinungen im Kopf herum – etwa zu Kunst und Kultur: Was Othello rasend macht, ist in Wahrheit ein Schnupfen, Hamlet muß Hämorrhoiden haben, die Gotik ist ein »Frostbeulenstil« usw. usf. –, sondern er hadert vor allem unablässig mit den winzigen Widrigkeiten der Wirklichkeit, die der menschlichen Vernunft und Planungshoheit Hohn sprechen: Mal ist die Brille verlegt, mal der Schlüssel weg (»›Es war zum Rasendwerden, da finde ich ihn endlich, sehen Sie, so!‹ Er legte den Schlüssel auf das Tischchen am Bett, stellte den Leuchter darauf; der Schlüssel fand just, wie ausgemessen, Platz unter dem Leuchterfuß«), bald hängt sich ein Papier beim Umordnen an den falschen Aktenstoß und verschwindet auf Jahre in der falschen Ablage, dann wieder, als er eine Landkarte auf dem Gasthaustisch ausbreiten will, stört das Geschirr, woraufhin er dem Wirt kurzerhand die Teller und Tassen abkauft und aus dem Fenster wirft – wie am Fließband kommen diesem »schiefgewickelten Manne« die Dinge in die Quere. »Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke«, räsoniert er und weiß, daß der Mensch machtlos ist: »Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermutung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden!«
 Die Tücke des Objekts: das ist der Begriff, den Vischer in diesem 1879 erschienenen Roman geprägt hat. Natürlich ist die Sache älter (ich erinnere an das grimmige Märchen vom »Herrn Korbes«); aber erst Vischer hat das Walten des »kleinen Zufalls«, wie er das boshafte, unvorhersehbare Verhalten der Dinge auch nennt, als Gegenspieler der menschlichen Freiheit und Größe, ja als Prinzip der Wirklichkeit philosophisch auf den Punkt gebracht und literarisch gestaltet. Die Zeit, das neue, voll unter Dampf stehende Maschinenzeitalter, war damals reif für diesen Roman: Fehlerlos wie eine planmäßig arbeitende Maschine sollte wohl auch das menschliche Leben abschnurren.   Vischer (1807–1887), gelernter Professor für Ästhetik und ursprünglich aus der linken Hegel-Ecke kommender Philosoph, ist vielleicht noch durch seinen »Faust. Der Tragödie dritter Teil« dem Namen nach bekannt (auch wenn er diese Parodie unter dem Pseudonym »Deutobald Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky« herausbaldowerte), außerdem war er aber humoristischer Lyriker, wegweisender Kritiker, bahnbrechender Kunst- und Komiktheoretiker, ein Begründer des Realismus als Weltanschauung und Wegbereiter der realistischen Literatur; nebenbei auch liberaler Abgeordneter von 1848. Möglicherweise war er selber »Auch Einer«, denn dieser Roman-Klotz aus Reisebeschreibung, Tagebuch, Singspiel, historischer Erzählung und philosophischem Essay ist ohne autobio-graphische Würze kaum denkbar. Wäre aber vielleicht lesbarer: Denn dieses 400 Seiten schwere Objekt hat seine Tücken. Man ermüdet mit der Zeit, während man wie ein Trüffelschwein die Seiten nach extravaganten Kostbarkeiten durchwühlt. Der frühe Peter Handke dampfte einmal Kafkas »Prozeß« auf eine Erzählung von sechzehn Seiten ein, in der nichts fehlt. Und vierzig Seiten »Auch Einer« wären auch eines: genug.



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg