Inhalt der Printausgabe

November 2005


Humorkritik
(Seite 7 von 7)

Im Angesicht des Todes
Wer würde ernsthaft bestreiten, daß die ganze Welt ein Irrenhaus ist? Man muß nicht einmal Beispiele anführen (Weltklimakonferenz, Privatfernseh, Islam) – aus privatistischer wie aus globaler Perspektive lassen sich unschwer Belege im Dutzend finden, daß das Projekt Zivilisation als ziemlich gescheitert gelten darf, der Mensch als geistig ruiniert und kollektiver Selbstmord als die einzige Lösung. Dennoch hört man kaum Stimmen, die dieser Möglichkeit ernsthaft das Wort reden. Eine Ausnahme ist da der Schweizer Philipp Müller, dessen Buch hält, was sein schön apodiktischer Titel verspricht: »Freitod – Die beste Lösung. Eine Abrechnung mit der Lebens-Bejahung« (zu bestellen unter www.ja-zum-freitod.ch).
Abgerechnet wird da mittels eines autobiographisch angelegten Textes tatsächlich mit einigem Furor. Etwa mit der »Arbeitsproblematik«: »Arbeit lehne ich heute als Teil des lebensbejahenden Kampfes ab. Bis heute und wohl für immer muß der Mensch zu seinem Überleben Anstrengungen unternehmen, welche Körper, Geist und Seele zerstören. Da Arbeit zerstört, müssen Begriffe wie Karriere, Erfolg, Erfüllung durch Arbeit usw. als unehrlicher Schwachsinn abgetan werden.« Mit der »Schönheitsproblematik«: »Nur schöne Menschen können kurzfristig ein glückliches Sexualleben haben, und man sollte gerade von dieser Erkenntnis aus abgeleitet aus moralischer Rücksicht auf die vielen Häßlichen das Leben und die Menschheit als Ganzes in Frage stellen.« Und mit den Frauen: »Auf die Frauen zu setzen kann keine Lösung sein, weil sie sich im besten Falle als Mittäterinnen erweisen und ebenso klar zur Mafia gehören wie die Männer.«
Abgerechnet wird aber auch mit Mutter Teresa, dem »fürchterlichen Schriftsteller Elias Canetti«, mit Karl Marx (»Wichtigtuer«), Heidegger (»unsinnig komplizierte Wortspielereien«) und René Descartes: »Es ist ein Armutszeugnis für die Philosophie, wenn ein solcher Denker in die Geschichte eingeht und bis heute diskutiert wird.«
Müllers »beste« bzw., wie es im Buch weiter hinten heißt, »am wenigsten schlechte Lösung« ist tatsächlich »kollektiver Freitod der Friedlichen«. Und daß er es ernst meint, daß er aus äußerster Verzweiflung an der Welt und insbesondere der offenbar zutiefst bürgerlichen Welt des Schweizer Kantons Schaffhausen zu den stärksten Formulierungen greift, macht ihn zu einer Figur, wie sie ohne weiteres bei Thomas Bernhard vorkommen könnte: todessehnsüchtig, gegen ihren Willen in die Welt geworfen, Schimpfkanonaden abfeuernd, philosophischernst und komisch zugleich und stets mit einem Bein in der psychiatrischen Anstalt – hätten nicht seine Eltern interveniert, wäre Müller mit 22 Jahren zwangseingewiesen worden, weil er trotz medikamentengestützter Psychotherapie nicht von dem lassen wollte, was er als richtig erkannt hatte: daß jeder Mensch das Recht hat, seinem Leben ein willkürliches Ende zu setzen.
Komisch wird Müllers Buch, weil in ihm Welten aufeinandertreffen, ja: ungebremst zusammenstoßen. Nämlich die Welt der Hochphilosophie hie, die Ehrfurcht gebietet gegenüber ihren Themen und Vertretern, und die Welt des Philipp Müller da, der nach bürgerlichen Maßstäben als klinisch Irrer gelten darf und dessen genuine Respektlosigkeit stets die eigenen Gedanken über jegliches Schulbuchwissen stellt.
Denn »angesichts des Todes ist alles lächerlich« (Bernhard), und Erkenntnisse wie »der durchschnittliche Schweizer Mann, dem man in einer Rekrutenschule begegnet, erweist sich ganz einfach als Katastrophe«, die Rede vom »geistig Kriminellen«, der dann »natürlich ein Freund meines Chefs vom Schulbus ist«, von der »unglaublich lügenhaften und denkerischen Fehlleistung fast der gesamten Menschheit« und der »Grundsatzfrage, ob der Mensch nicht automatisch in dieser Welt zum Verbrecher wird« machen Philipp Müllers Buch möglicherweise nicht zum »wichtigsten der ganzen Menschheitsgeschichte«, wie er im Vorwort mit der ihm eigenen Hybris behauptet – aber immerhin zu einem vollkommen authentischen und hoch unterhaltsamen. Denn er hat ja recht mit seiner »Wut auf die Welt und ihre Menschen«. Aber so lange es so sympathische Käuze wie Müller gibt: lebe ich trotzdem ganz gern auf ihr.


 
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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg