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November 2005
Die Reform frißt ihre Kinder Vom Ende einer Meinungstyrannei (Seite 1 von 2) |
Die vom sog. Nachrichtenmagazin Spiegel wegen ihres reformfeindlichen Ergebnisses und ihrer nicht hundertprozentig absehbaren Folgen als »Chaos-Wahl« tränenreich bejammerte Bundestagswahl war gottlob alles andere als eine solche; war sie doch vielmehr eine Wellness- bzw. Wohlfühl-Wahl, die den Würgegriff der autoritären Reformer ein wenig lockerte und dem Land und seinen erleichtert aufatmenden Bürgern einige regierungs- und somit auch reformfreie Wochen bescherte. Daß die leicht verkanteten Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag überdies die erfreuliche Perspektive aufschimmern ließen, nun sei vielleicht erst einmal Schluß mit den verlogenen und mittlerweile doch recht faden Rufen nach radikalen Reformen, schmerzhaften Einschnitten und unzumutbaren Zumutungen für angeblich jedermann – das grämte die stets hysterischen Betonköpfe vom Spiegel selbstverständlich sehr. »Dem Land könnte ein quälend langer Machtkampf bevorstehen, der die Wirtschaftskrise weiter verschärft«, zeterten die journalistischen Speichellecker der Unternehmerverbände in ihrem Wahlsonderheft vom 19.9.; und auch eine Woche später, am 26.9., konnten sie in ihrer Verbitterung immer noch nur das »Chaos« in diesen »Chaos-Tagen« der ungeklärten Regierungsbildung sehen. Mittlerweile aber hatte sich der Wind in der deutschen Publizistik jäh gedreht – und dortselbst ein großes Nachdenken eingesetzt. Da der Wählerwille offenkundig nach Glasnost und Perestroika verlangte, zerbröckelte und zerbröselte das vom Hamburger Sturmgeschütz der Plutokratie angeführte Kartell der restaurativen Reformeinpeitscher nun an allen Ecken und Enden. Schon am 20.9. monierte Hans Leyendecker in der bislang eigentlich sehr reformwilligen Süddeutschen Zeitung, der Wahlkampf 2005 habe »ein paar publizistische Besonderheiten« aufgewiesen: »Erstmals warben Magazine wie Stern oder Spiegel mehr oder weniger unverhohlen im Gleichklang mit Blättern des Springer-Verlages und mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für den politischen Wechsel zu den Konservativen.« Und weiter vorne in derselben Zeitung tadelte Heribert Prantl: »In der Tat konnte man den Eindruck haben, daß nicht nur die Springer-Blätter, sondern auch dem Kanzler früher leidlich zugeneigte Medien sich gegenseitig bei seiner verfrühten Verabschiedung überboten, dabei auch mal die Grundregeln des Handwerks beiseite schoben und vom rot-grünen ›Desaster‹ wie von einer objektiven Nachricht schrieben.« Ebenfalls am 20.9. vollzog aber auch die ansonsten unbequeme Reformen zugunsten von Großgrundbesitz und Hochfinanz eifrig herbeibetende Welt ihre frappierende Kehrtwende. »Der Souverän hat entschieden und gezeigt, daß er nicht gewillt ist, sich zutexten zu lassen von einer nahezu geschlossenen Medienfront«, zeigte sich Eckhard Fuhr erstaunlich befriedigt und goß lautstarken Hohn über das langjährige Verhalten der behämmerten Kollegen von Spiegel et al.: »Aus Kommentatoren wurden Oberlehrer, die immer ungeduldiger das Abarbeiten einer ›Reformagenda‹ einforderten, über deren Inhalt und Verbindlichkeit es angeblich ›überhaupt keine Diskussion‹ mehr geben dürfe.« Just aus dem Oberlehrerzimmer jedoch, aus den Redaktionsräumen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nämlich, vernahm man am selben Tage bestürzend neue Töne der Zerknirschung: »Soviel zum Thema Reformen. Oder glaubt noch irgend jemand, daß in absehbarer Zukunft ein Politiker in Union oder SPD darauf setzt?« fragte Volker Zastrow tief verzweifelt, bevor er das Überdruß erzeugende Übermaß an vulgärkapitalistischer Propaganda zugunsten der eklen Reformen anprangerte: »Die grundsätzliche Bereitschaft dazu war durch Aufklärung aller Art in den vergangenen 25 Jahren durchaus gefördert worden. Doch in der jüngeren Vergangenheit hat ein ideologischer Lobbyismus mit generalstabsmäßig organisierten Kampagnen die Gegenkräfte nicht etwa geschwächt, sondern kontraproduktiv gestärkt.« Und um sich von den in diesem Zusammenhang besonders kreglen Ökonomen abzusetzen, prägte Zastrow sogar das Wort vom »Untergangspropheten mit Pensionsberechtigung« – so daß sich die Herren Wirtschaftsprofessoren nun wohl leider eine neue Tageszeitung suchen müssen. Aber welche? Gewiß nicht die taz, die sich, wiederum am 20.9., extrem kritisch zum jüngstvergangenen »Medialdebakel« äußerte, indem sie auf das ausgeprägte Anpassertum im Journalismus verwies: »Und dann waren da noch die Umfragewerte, die Schwarz-Gelb klar vorne sahen«, wie Hannah Pilarczyk mit leisem Selbstekel zurückblickte: »Was konnte man da alles fordern, wie weit konnte man sich aus dem Fenster lehnen, als man noch die Mehrheit der Wähler hinter sich dachte. ›Raus hier, aber dalli!‹, so titelte auch die taz und meinte, damit ein mehrheitsfähiges Gefühl mehr wiederzugeben als herbeizuschreiben.« Tja! Hinterher weiß man’s immer besser! So daß Volker Zastrow – am 22.9. in der naßforsche Reformen auf Kosten des Sozialstaats eigentlich stets befürwortenden FAZ – in puncto Selbst- und Spiegel-Geißelung noch eins drauflegen mußte: »Man hat sich in den politisierenden Eliten ein bißchen zu sehr daran gewöhnt, Witwen und Waisen, ja schon gleich alle, die nicht als Erfolgsmenschen bewiesen werden können, gleichsam als Hindernis auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu betrachten. Das ist nun allerdings der bei weitem größte Teil der Bevölkerung.« Um den sich freilich gerade die FAZ selten so rührend kümmerte wie jetzt – weshalb Zastrow nun auch die dafür politisch Verantwortlichen einmal ganz erheblich schelten mußte: »Die Union ist allzusehr Kampagnen auf den Leim gekrochen, die hinter hochtrabenden Ansprüchen ökonomische Partikularinteressen verbergen.« Oje! Hoffentlich bleibt die FAZ trotz dieses internen Fegefeuers bei ihrem mutigen Einsatz für »mehr Freiheit« und »mehr Eigenverantwortung«. Es wäre doch sonst zu schade. |
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