Inhalt der Printausgabe

Dezember 2005


Jerofejew vs. Erofeev
Humorkritik-Spezial
(Seite 3 von 3)

Im Gegenzug ist Urban hypergenau, sobald er russischen Jargon und sowjetisches Fachvokabular anbringen kann. Wo Spitz klar und leserfreundlich von einem »Trunkenbold«, einem »Lager des Kaufhauses« oder einem »Bezirksfürsorgeamt« schreibt, benutzt Urban Begriffe wie »Alka«, »Selpo-Lager« oder »Rajsobés«, weshalb sein Text in der Tat ohne Kommentar nicht leicht zu verstehen ist.
Der fast achtzig Seiten starke Kommentarteil enthält so manche kundige Fachinformation, nicht zuletzt, weil Urban sich auf zwei bereits vorhandene russische Kommentare stützen konnte. Beispielsweise erfährt man, daß die Schlußnotiz, das Buch sei »bei Kabelarbeiten in eremetjewo, Herbst 69« entstanden, falsch ist. In Wahrheit wurde das Manuskript begonnen »in den letzten Januartagen 1970 und abgeschlossen etwa am zweiten, dritten März«. Und wenn nicht zwei Seiten später zu lesen wäre, Erofeev habe exakt »vom 19. Januar bis zum 6. März 1969« an »Moskau – Petuki« ge-arbeitet, dann wüßten wir’s jetzt also ganz genau.
Aber nur wenige Hinweise im Kommentar sind widersprüchlich. Ein weitaus größerer Anteil ist sorgfältig recherchiert, sachlich richtig, korrekt wiedergegeben und komplett uninteressant. »Und nun geriet alles durcheinander«, schreibt Erofeev an unscheinbarer Stelle, woraufhin Urban anmerkt, der zweite Satz von »Anna Karenina« laute »Bei den Oblonskijs war alles durcheinandergeraten«. Ist im Text von einem Viehhof die Rede, kann Urban vermelden, das Wort schon an anderen Stellen gelesen zu haben, nämlich »in Pukins Versroman Evgenij Onegin 3, I, sowie in Adelsnest, XXXV.« Der Kinderliedvers »Seit Februar hab ich geklagt, und im August Ade gesagt« liefert den Anlaß für die Informa-tion, daß Aleksandr Blok, Nikolaj Gumilëv und Marina Cvetaeva im Monat August gestorben sind. Das mag ja alles sein, steuert aber zum Verständnis des Buchs keine drei Kopeken bei.

Nicht so gute Übersetzung
mit einer Zeichnung von Bernd Pfarr
Das erklärt sich dem nicht voll-ends verbildeten Leser zum Glück weitgehend von selbst. In einer grandiosen Nonsenspassage erklärt der ahnungslose Erzähler seinen noch ahnungsloseren Mitreisenden die Welt, etwa so: »In Sibirien lebt überhaupt niemand, dort leben nur Neger. Man schafft keine Lebensmittel dorthin, sie haben nichts zu trinken, vom Essen zu schweigen. Nur einmal im Jahr schickt man ihnen aus itomir gestickte Handtücher – und an denen hängen sich die Neger auf.« Welchen Reim macht sich Urban auf diese Zeilen? Diesen: »nur Neger – wohl im Sinne v. Arbeitssklaven des GULag.« Ach, es ist hoffnungslos. Der Mann kapiert einfach keinen einzigen Witz.
Ich resümiere: Wir besitzen eine vorzügliche Übersetzung von Jerof-ejews Chef d’œuvre, nämlich die von Natascha Spitz. Peter Urbans Konkurrenzprodukt kann nicht mithalten. Seine Übersetzung ist weniger stimmig, sein Kommentar weitgehend für die Katz, sein -Nachwort ein einziges Ärgernis. Die kurze biographische Notiz allerdings – ich muß schon sagen: alle Achtung. Die ist echt spitze.
Klaus Cäsar Zehrer

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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg