Inhalt der Printausgabe

September 2004


How I simplified my life
Ein Tagebuch aus den Zeiten der neuen Übersichtlichkeit
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9. August
Bettina ist stolz auf mich, will bei dem Projekt mitmachen: Sie teilt meine nächtlichen Bemühungen in "unbefriedigend" und "zu schnell". Außerdem findet sie meine neuen Hängeregistraturen "unsexy". Ich ihre alten auch, aber ich halte meinen Mund. Eine komplizierte Fraktur ist das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.
 

10. August
Zum Simplify-Konzept gehört auch Ordnung bei den Finanzen: Entschulden Sie sich! Eröffne ein neues Girokonto und hebe 10 000 Euro ab, mit denen ich meine anderen ausgleiche. Entweder schrauben Sie Ihre Bedürfnisse herunter oder Ihre Einnahmen herauf, schreibt Küstenmacher. Also gut: Ab sofort keine Ballettabende in der Staatsoper mehr, keine spanischen Problemfilme um verwirrte Nonnen und keine stundenlangen Telefonate mit Mutti. Statt dessen deutlich mehr eingenommen (Baldrian, Prozac, Schokoplätzchen), anschließend gutgelauntes Verdauungsschläfchen.

11. August
Ent-schleunigen Sie Ihr Leben! Endlich mal ein Rat, der mir sofort einleuchtet: Drei Stunden Frühstück, Zeitung lesen, dann Mittagspause - mein bisheriges Leben ist einfach zu hektisch gewesen! An einer Stelle eine Schneise schlagen, indem Sie überflüssige Aktivitäten entfernen - Nasebohren und Füßewaschen ab sofort gestrichen, Tag sofort spürbar strukturierter. Glück praktisch unabwendbar.

12. August
Beschließe, meinen Wortschatz zu entrümpeln: Auf komplizierte, zeitraubende Begriffe wie "Einkommensteuererklärung", "Desoxyribonukleinsäure" und "Muttertag" wird in Zukunft verzichtet. Ab sofort einfache, klare Sprache: Hunger, Durst, Pimmel. Bettina macht mit: "Migräne, Schlappschwanz, raus!" Auch Abendgestaltung wird so um vieles einfacher (Fernsehen).

13. August
Merke, wie ich zunehmend Herr meiner selbst werde: Fester Entschluß zu lernen, Entscheidungen zu treffen. Gehe wiederum den Küstenmacher-Weg und formuliere schriftlich meine Wünsche, zwischen denen ich mich nicht entscheiden kann: "Ich will in Trier Wissenschaftlichen Sozialismus studieren, mir einen Bart wachsen lassen und mit drei Pädagogik-Trullas eine WG aufmachen" ist der eine, der andere "Ich will total bekifft ›Simpsons‹ gucken und mir danach evtl. gemütlich einen runterholen". Küstenmachers Trick funktioniert: Als ich den einen Satz niederschreibe, muß ich unwillkürlich lächeln! Dann ziehe ich schön einen durch und gucke "Simpsons". Mein Bartwuchs ist eh zu schwach.
 

14. August
Auf der Liste der zeitsparenden Tätigkeiten steht das Thema "Arbeit abgeben an andere" ganz oben. Delegieren bedeutet, anderen etwas zuzutrauen und ihnen damit Lebenszuversicht zu geben. Traue Bettina ohne weiteres zu, sich zum Geburtstag selbst etwas Schönes zu kaufen. Bettina ist zuversichtlich, es in Zukunft ohne mich zu schaffen. Alles wird immer übersichtlicher! Jetzt, wo die blöde Kuh weg ist, delegiere ich verstärkt Reinigungsaufgaben an Schaben, Ameisen und Schimmelpilze.

15. August
Setze mit Küstenmacher alles auf eine Karte: Ent-decken Sie Ihr Lebensziel. Jedes Leben hat ein Ziel, hat seinen inneren Sinn. 100 000 Dinge lenken Sie Tag für Tag davon ab. Simplify Your Life bedeutet, endlich wieder einen freien Blick zu bekommen für dieses Ziel. Jeder Mensch, auch der mit dem unscheinbarsten, chaotischsten oder armseligsten Leben hat eins. Ahnung, meins könnte "Bankdirektor mit Riesenschlitten und Frauenüberschuß" sein.
 

16. August
Aus der Sparkasse geprügelt und anschließend beim Schwarzfahren erwischt worden. Flirtversuch endet mit Anzeige wegen sexueller Nötigung, neues Girokonto wohl eher bei Volksbank. Habe den Verdacht, dieser Küstenmacher-Scheiß ist nur etwas für analregressive, protestantisch verformte Anpasser, für die Glück alles ist, worüber sie nicht selbst nachdenken müssen. Lege frischen Schmutzwäschestapel an. Finde im Altpapier ein interessantes Buch mit dem Titel "Dianetik". Hab's mal eingesteckt, bin eh zu fett.

Stefan Gärtner/Oliver Nagel/Stephan Rürup



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt