Inhalt der Printausgabe

November 2004


Humorkritik
(Seite 8 von 8)

Die Welt ist eine Scheibe
Poolbillardhallen sind keine literarischen Salons, aber ich habe dort mehrmals erlebt, daß sich (junge) Leute ein beinahe ziegelsteingroßes Paperback unter die Nase hielten und von Terry Pratchett schwärmten. Dem Lob für den Fantasy-Autor folgte meist das stolze Bekenntnis, wie viele seiner Wälzer man schon gelesen habe. Einige verkündeten "vier", andere haben es auf "achtzehn" gebracht, aber ich kenne niemanden, der alle Bücher von Pratchett - nicht mal alle Scheibenweltromane - gelesen hat.
"Weiberregiment" (Manhattan) ist den meisten Quellen zufolge sein 28. Buch aus der Scheibenwelt, und da Terry Pratchett laut eigener Aussage mit einem neuen Manuskript beginnt, sowie er eins abgeschlossen hat, dürfte das neunundzwanzigste Werk nicht lange auf sich warten lassen. Experten empfehlen zum Einstieg "Einfach göttlich", weil hier keine Figuren auftauchen, die schon früher eingeführt wurden, aber man kann sich auch irgendeinen Band greifen und dann versuchen, das Knäuel auf eigene Weise aufzudröseln.
Pratchett, 1948 im englischen Beaconsfield geboren, begann früh mit dem Geschichtenschreiben, bestritt seinen Lebensunterhalt aber lange Zeit als Journalist und Pressesprecher eines Atomkraftwerks. Der erste Scheibenwelt-Roman erschien 1983, und als Pratchett das Universum um die Stadt Ankh-Morpork mit immer neuen Trollen, Zwergen, Hexen, Zauberern und anderen merkwürdigen Typen bevölkerte, wurde auch seine Fangemeinde immer größer. Seine Anhänger widmen sich der Phantasiewelt Pratchetts mit Hingabe und Liebe zum Detail. Es gibt Stadtpläne von Ankh-Morpork, Webseiten und Fachzeitschriften; Merchandising und Gehabe erinnern an "Star Trek", "Herr der Ringe" und "Harry Potter"; und Pratchett gerät des öfteren in den Verdacht, bei J. K. Rowling abgekupfert zu haben. Worauf er geduldig erklärt, daß ein Buch, welches schon Anfang der achtziger Jahre erschien, wohl eher kein Plagiat einer Veröffentlichung aus den späten Neunzigern ist. Pink-Floyd-Fans haben sich überraschenderweise noch nicht beschwert, obwohl 1972 "The Dark Side of the Sun" - ein Jahr vor "The Dark Side of the Moon"! - erschien. Nicht zuletzt unterscheidet sich die Scheibenwelt von anderen Pop-Phänomenen durch den Anspruch, Satire zu sein. Mehr dazu später.
Wer Pratchett nicht selbst lesen will, kann sich ihn vorlesen lassen, allerdings nicht vom Autor selbst - Pratchetts Lesungen sind berühmt dafür, daß der Schöpfer nicht liest, sondern statt dessen Monologe zu ihm vom Publikum vorgegebenen Themen improvisiert. Auf deutsch gibt es Hörbücher, die Dirk Bach eingelesen hat. Der Schauspieler widersteht angenehmerweise der Versuchung, die skurrilen Texte durch affektierten Vortragsstil zu schädigen. Die Übersetzungen von Andreas Brandhorst sind liebevoll und werkgetreu, wenn auch - wozu brauchten wir eine Scheibenwelt, wenn diese Welt perfekt wäre! - in den Büchern Druckfehler nicht selten sind.
Bleibt die Frage, wie es denn nun um die Satire steht. Kann ein dermaßen kommerziell erfolgreiches Werk (pro Jahr werden weltweit über eine Million Pratchett-Bücher verkauft) wirklich satirisch sein?
Doch, schon.
Zwar scheinen mir die Elogen, die Pratchett zum neuen Swift küren, übertrieben; dafür gehen mir seine Attacken nicht weit genug und sind die Pfade, auf denen Pratchett sich bewegt, zu ausgetreten. Um Satire und Parodie handelt es sich dennoch, und die meisten Themen (u. a. Musikindustrie in "Rollende Steine", Printmedien in "Die volle Wahrheit" oder der Tod in "Gevatter Tod") werden witzig und unterhaltsam abgehandelt. Vor allem wenn man bedenkt, daß Fantasy eigentlich ein Weltflucht-Genre ist, sollte man diese spezielle Diesseitigkeit der Discworld nicht unterschätzen.
Auch das erzählerische Vermögen des Autors ist beachtlich. Er jongliert gekonnt mit Formen und Motiven, ist allerdings für Leute, die schon viel gelesen und gesehen haben, oft durchschaubar. In "Weiberregiment" finden sich neben anderen ein Motiv aus der Oper "Fidelio" (Mädchen verkleidet sich als Soldat, um ihren Vater zu befreien) und Anleihen aus "Die Marx Brothers im Krieg". An anderen Stellen, wie in "Macbest" und "Der fünfte Elefant", sind die Assoziationen beabsichtigt. Möglicherweise ist dieser "Zitatterich" (Erich Mühsam) eine Folge der Vielschreiberei. Unterm Strich bleibt ein Autor, der Lesern Spaß für ihr Geld gibt und vor allem Leute fürs Lesen gewinnt, die mit dem traditionellen Literaturbetrieb nichts anfangen können.
Das ist keine geringe Leistung. Denn ein Buch ist mir in Poolbillardhallen noch nie untergekommen: Bölls "Billard um halb zehn".


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick