Inhalt der Printausgabe
Mai 2002
Vom Fachmann für Kenner (Seite 4 von 16) |
Besuch bei Rolf "Es war Dörthe, die mich drauf brachte. Eines Abends nahm sie einen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die bei mir im Kühlschrank stand. Hmm, sagte sie und verzog etwas das Gesicht, das schmeckt ja wie Sperma. Ich vermute, weil das Wasser leicht salzig war. Aber eigentlich ist Mineralwasser das ja: Sperma, Sperma der Erde. Befruchtet das sprudelnde Naß nicht alles, was mit ihm in Berührung kommt? Nein? Doch! Ich jedenfalls hatte die Idee. Den Rest kennt ihr, es stand schließlich in allen Zeitungen. Ich kaufte die Mineralwasserfirma, benannte das Wasser in ›Erdsperma‹ um, und tatsächlich: Erdsperma wurde der Renner des ausgehenden Jahrhunderts. Alle soffen das damals: groß, klein, jung, alt, kistenweise. Ja, letztlich ist es Dörthe, der ich das alles hier" - Rolf holte zu einer großen Geste aus und zeigte auf den prächtigen Park und die alte Villa hinter sich - "zu verdanken habe. Ach, herrje: Jetzt muß ich aber wirklich gehen." Rolf drückte jedem von uns noch mal die Hand, machte dann auf dem Absatz kehrt und stolzierte hochzufrieden zurück zur Villa, wobei er fröhlich vor sich hin pfiff. Wir blieben noch ein paar Minuten am schmiedeeisernen Gitter des barocken Parktors stehen, um ihm nachzusehen. "Ach, der Rolf", sagte Heike. "Ja, der Rolf", antwortete ich. Dann öffnete sich die große, mit Schnitzereien verzierte Holztür der psychiatrischen Klinik, und Rolf war so plötzlich wieder verschwunden, wie er gekommen war. Christian Y. Schmidt
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