Inhalt der Printausgabe
Juni 2002
Vom Fachmann für Kenner (Seite 3 von 16) |
Im Ratskeller Ein Freund von mir mußte einmal als Vertreter eines nicht unbedingt gut beleumundeten Anzeigenblattes einen Pressetermin im Rathaus wahrnehmen, zu dem auch ein Mittagessen im Ratskeller gehörte. Da der Freund aber aufgrund seiner armseligen Stellung an den Rand der journalistischen Sitzordnung gedrängt worden war, wurde er auch als erster vom Kellner aufgefordert, seine Essensbestellung aufzugeben. Das wiederum brachte den Freund in arge Bedrängnis. Das teuerste Gericht zu bestellen, wie es ursprünglich sein Vorsatz gewesen war, schied bei genauerer Überlegung wegen allzu offenkundiger Unverschämtheit aus. Überhaupt aus dem Segment der Gerichte über 25 Mark zu wählen hätte ein schlechtes Licht auf ihn und seinen Arbeitgeber geworfen. Man hätte ja denken können: Der verdient da nichts, bei seinem Käseblatt, der muß sich wohl auf Kosten des Stadtsäckels mal richtig satt essen. Etwas ganz Billiges, nur einen kleinen Snack, konnte er aber ebensowenig bestellen: Die anderen hätten denken können, er sei das Essengehen im beruflichen Auftrag nicht gewohnt, sei eine eingeschüchterte graue Maus. Der Freund faßte sich ein Herz, da der Kellner bereits ungeduldig wippte, entschied sich für ein nicht zu extravagantes Putensteak für DM 16,90, schloß die Karte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die weitere Bestellungsaufnahme aber, die der Freund mit großen Augen verfolgte, gestaltete sich überraschend zügig, weil alle anwesenden Pressevertreter, zehn an der Zahl, seinem Beispiel folgten und das gleiche Gericht bestellten. Irre, oder? Und da wundert man sich noch, daß die stets alle auch das gleiche schreiben. Mark-Stefan Tietze
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