Inhalt der Printausgabe
Dezember 2002
Wie Siegfried Unseld einmal zu Grabe getragen wurde (Seite 8 von 9) |
|
Um wenigstens ein klein wenig Unfrieden bzw. Unruhe zu schaffen, blieb Reich-Ranicki, nachdem er kondoliert und die Phalanx der verfeindeten Familien abgeschritten hatte, einfach am Schluß der Reihe, in einem Schammeter Entfernung stehen, pflanzte sich auf und machte spontan mit. Wer nun der Familie kondolierte, kam, ohne daß man etwas dagegen hätte tun können, auch an dem neuen, quasi ehrenamtlich Mittrauernden vorbei und mußte sich von ihm die Hände schütteln lassen. Jetzt, das spürte ich, war meine Stunde gekommen. Die Securityleute hatten sich nach Schröders Verduften ebenfalls in übelriechende Luft aufgelöst, schützender, weltgerechter Dämmer senkte sich, durch die Baumkronen rieselnd, auf uns hernieder, ich blickte mich um, ich atmete durch, aktivierte blitzartig einen unvorhersehbaren zweibeinigen Lokomotionsschub in Richtung des offenen Grabes, ich spürte die Blicke der Witwe, das Entsetzen in den Augen des Lektors, die Kälte, die durch das feuchte Gras meine Beine emporkroch, ich hielt fester umklammert den Griff, ich stand vor dem Grab, riß den Griff hoch, öffnete den schweren Koffer, nahm den ersten weißen Packen Papier heraus und brüllte, ja schrie, und die Schreie hallten wider von den Mauern der Trauerhalle: "Siegfried! Du Sau! Du Unsau! Da hast du deine abgelehnten Manuskripte. Nimm sie - ich will sie nicht mehr! Da hast du die ›Dialektik der Goldhamsterzucht‹, 800 Seiten, besser als Derrida, Foucault und Sloterdijk zusammen! Und da hast du meine Aphorismensammlung ›Gedanken im Stau vor der holländischen Grenze‹. Lies sie, Unseld, jetzt hast du Zeit! Lies endlich meinen packend geschriebenen Punkroman ›Besoffen mit Andi und Votze vorm Kaufhof‹! Den Psychothriller ›Die blutverschmierte Klingel von Bilsenmanns im 1. Stock‹! Meinen ehrlichen Tramperroman ›Rucksack vergessen im Zug‹! Gut, die ›Singenden Sägen‹ kannst du dir sparen, das ist wirklich Mist. Aber mein schonungsloser Bildungsroman wird dir zu knabbern geben! ›Mutter und Milosevic‹! Lies das, Unseld! Das ist Suhrkampkultur superpur! Nobelpreismaterial! Fuck Hesse! Aber dafür ist es jetzt zu spät, Unseld! Jetzt kannst du dich gehackt legen! Niemals wirst du" - |
|
1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 |