Inhalt der Printausgabe

Dezember 2000


Humorkritik
(Seite 2 von 7)

Jets zum Schenken

Wg. der dräuenden Weihnachtszeit und der damit traditionell einhergehenden Schenkungsverlegenheit will ich die Lebensberatungspraxis Dr. Mentz zwei Fingerzeige lang öffnen. Auf CDs sollen sie deuten, auf eine einzelne, flache und einen vierfach dicken Schuber; beide Werkkompilationen sind komischen, unterhaltenden, wiewohl dokumentarischen Charakters, beider Namen eignet erstaunlicherweise etwas Kampfflugzeughaftes.
Die nahezu komplette Tonträgerhinterlassenschaft der Berliner Spaßguerilla-Truppe "Die 3 Tornados" liegt jetzt als CD-Viererpack vor und vermag mir heute, beim Wiederhören, durchaus einige Freudentränlein abzuringen. Als Kreuzberg noch die Szenehauptstadt eines Landes war, das von den dort Hausenden gerne "BeeRDigung" buchstabiert wurde, vereinigten sich die Studenten der Theaterwissenschaft Arnulf Rating und Günter Thews mit dem Musiker Hans-Jochen Krank (der später durch den Zirkusmann Holger Klotzbach ersetzt wurde) zur fraglos schnellsten und hellsten Spontaneistenkabarettgruppe der Republik. Als hochmobiles Komikkommando tourten sie, ausstaffiert mit "Koffer, Knarre und Kwetsche" (Rating) durch Jugendzentren, Alternativenkongresse und WG-Küchen, belieferten ihre anpolitisierte und zumeist studentische Publikumsbasis mit dem komischen Überbau: ihrem munter herausgerotzten "plumpen Verbalradikalismus" (Nürnberger Nachrichten). Das hier wieder als deutsches Humorschallarchiv erfreulich aktiv gewordene Münchner Trikont-Label hat Mit- und Querschnitte der Platten "Flipperschau" (1977), "Rundschlag am Mittag" (1978), "Tornados à gogo" (1979), "Radio Radikal" (1984), "Totalschaden" (1985) und "Live bei Tante Resi" (1988) in einen repräsentativen Schuber gedrückt: "Die 3 Tornados 1977-1988" (Trikont CD 0257-2). Naturgemäß sind die Live-Sachen, zumal die gesungenen, um ein Vielfaches kraftvoller, mitreißender und teils auch heute noch abgefahren komischer als die zuweilen recht dürftig wirkenden Studioproduktionen. Der Besitz dieses sei dringend anempfohlen, schon allein um als grotesk zu erkennen, daß sich heute ausgerechnet einer wie Ing. Appelt auf die Tornados beruft.
Wer Ruhigeres, Planvolleres und ca. tausendfach Elaborierteres verschenken will, ist mit der gerade erschienenen Hörstück-Kollektion "Alkoholprobleme in Dänemark" des 1997 weggeschiedenen Heino Jaeger gut, ja vielleicht bestens beraten (Kein & Aber Records/EFA 22754-2, im Buchhandel via Eichborn). Kollege Henscheid hat die Auswahl dieser nunmehr dritten posthumen Jaeger-CD besorgt und 24 Aufnahmen zusammengestellt, die um 1977 herum im Saarländischen Rundfunk in der Reihe "Das aktuelle Jaeger-Magazin" versendet wurden. Die Vielfalt der von Jaeger zum Leben und Labern erweckten Figuren, ihre dialektale Dämlichkeit und Jaegers darin sich aalende komische Versiertheit ist schlechterdings, ja, man kann es nicht anders sagen: genial. Wer sich diese Platte am 1. Dezember besorgt und täglich ein Stückchen weghört - der, die oder das hat den schönsten Adventskalender, wo gibt.




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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/i nnen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick