Inhalt der Printausgabe

Dezember 2000


God's dumb country


Zwei Fragen sind es, die hier auf den Redaktionsfluren während der Mittagspause ausgiebig diskutiert werden. Wer gewinnt die wichtigste Wahl der Welt? Und: Wer wird Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika?

Ich habe in meinem Leben schon an vielen demokratischen und undemokratischen Wahlen nicht teilgenommen. Aber keine von ihnen war derart konfus wie der aktuelle Wahlgang in den USA. Selbst wenn wir darüber hinwegsehen, daß sich mit Mel Carnahan in Missouri ein Verstorbener gegen seinen konservativen Konkurrenten durchgesetzt hat und somit eine bereits erkaltete Leiche in den Kongreß gewählt wurde. So etwas kann vorkommen; schließlich ist in Deutschland bei der vergangenen Bundespräsidenten-Wahl etwas sehr Ähnliches geschehen. Und eine stabile Demokratie sollte in der Lage sein, leblose Gestalten wie Carnahan und Joh. Rau auch in höheren Ämtern zu verkraften.

Martin Sonneborn, Chefredakteur
Martin Sonneborn,
Chefredakteur
Daß allerdings Wochen nach der Wahl noch keine endgültigen Ergebnisse vorliegen, ist mit der Zeitverschiebung nur sehr unzureichend erklärt. Das dürfte, ebenso wie die Tatsache, daß ständig irgendwo ungeöffnete Wahlurnen auftauchen, in denen sich eben nicht Mel Carnahan befindet, eine deutliche Empfehlung sein, bei der nächsten US-Wahl UN-Wahlbeobachter einzusetzen. Immerhin stehen selbst in einer drittklassigen Diktatur die Wahlergebnisse bereits wenige Tage vor Öffnung der Wahllokale fest, in zweitklassigen schon beim Drucken der Wahlzettel.

Apropos Wahlzettel! Welche Modalitäten letztendlich zu einem klaren und eindeutigen Ergebnis führen, das kann man heutzutage anhand von historischen Wahlen unter Hitler, Honecker, Mao und Egidius Braun sehr schön studieren. Auf keinen Fall jedenfalls sollte ein Wahlzettel gleich mehrere Namen enthalten; viele Amerikaner waren vom - sicherlich gut gemeinten - Angebot intellektuell überfordert. Desgleichen ist es natürlich ein Fehler, nicht mit dem üblichen Ankreuzverfahren zu arbeiten, sondern wie in Florida mit Ausstanzen. Rund 20 000 doppelt gelochte Wahlzettel in Palm Beach legen den Verdacht nahe, daß viele Rentner aus Respekt vor der wahrscheinlich hochkomplexen, offiziellen Präzisions-Stanzmaschine einen handelsüblichen Bürolocher mit in die Wahlkabine nahmen. Dafür lassen sich ihre Wahlzettel viel einfacher abheften, z.B. im Ordner "leider ungültig".

Andererseits: Was spielt es schon für eine Rolle, wen die Wahlmänner am 18. Dezember wirklich wählen? Der einzige Unterschied zwischen den Herren Bush und Gore dürfte noch darin bestehen, daß der eine die Leute gerne auf den elektrischen Stuhl schickt, während der andere sie lieber zu Tode langweilt.

Und deshalb ist für uns eine ganz andere Wahl von wesentlich größerer Bedeutung: Am 8. Dezember wird in der TITANIC-Redaktion turnusmäßig der "Kollege des Jahres" gewählt. Mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen wie in den USA ist aus zwei Gründen nicht zu rechnen: Erstens kam es bisher weder zu offenen Stimmenkäufen (wie im Wahljahr 1991, als Wiglaf Droste leichtfertigerweise vorab 20 Mark pro Stimme zahlte; von den Bestochenen jedoch nicht gewählt wurde) noch zur Gewährung sogenannter geldwerter Vorteile (1997 verteilte Heribert Lenz Bestechungs-Hanutas mit dem aufgemalten Slogan "Kollege des Jahres? Lenz, na klar!"; leider ergebnislos). Und zweitens steht der Name des Siegers schon seit Monaten fest; ist es doch stets der Name des Chefredakteurs, der traditionell sämtliche Wahlen seiner Amtszeit gewinnt.
Ein Modell für zukünftige Wahlen in den USA? Vielleicht.

Herzlichst, Ihr
Martin Sonneborn


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg