Inhalt der Printausgabe

Oliver Maria Schmitt

 

 

Die dOCUMENTA (13) eröffnet Klammern und Perspektiven

Gebannt wie in Opferstarre starrt stur die Welt nach Kassel. Nur noch ganz wenige Male aufwachen, dann ist endlich Kick-off für die 13. Documenta, die größte und modernste Ausstellung moderner Kunst von der ganzen Welt. Seit Wochen und Monaten wird in Kassel gehämmert, genagelt und gemalt, überall werden Schildchen angepappt und Preise verdoppelt, Weltstadtflair international, die Einwohner tragen sogar ausnahmsweise Kleidung, und die Bürgersteige sind bis weit nach 21 Uhr heruntergeklappt.

Stolz wie Bolle betrachtet Documenta-Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev »ihre« Stadt. Und ihre »Stadt« starrt zurück – voll auf die bulgarischstämmige Italienerin aus New York. Von Bewunderern wird sie nur »Christolyn Charkov-Bakargolitch« genannt, von Freunden hingegen »die Kasselaner Kunstbüx«. Von einer Mailänder Grafikdesign-Agentur namens »Leftloft«, wo Freunde von ihr arbeiten, ließ sie ein besonders teures Logokonzept entwickeln. Überraschender Inhalt des Konzepts: Es gibt gar kein Logo! Statt dessen soll der Name der Documenta in neuer Groß-und-klein-Schreibweise als Symbol dienen: »Der Name wird am Anfang mit einem kleinen d geschrieben, die folgenden Buchstaben sind Großbuchstaben, gefolgt von der in Klammern gesetzten 13.« Und wer sich fragt, was durch die in Klammern gesetzte 13 deutlich werden soll, dem entgegnen die lustigen Loftleft-Leute: »Der Höhepunkt im Jahr 2012 stellt nur einen Moment einer viel längeren Reise dar, durch die Klammern um die dreizehn wird das deutlich.«

Kunst führt immer zum Ziel

Außerdem wird die dOCUMentA (13) von einem sehr weiten, beinahe sperrangelweiten Kunstbegriff geprägt sein. Sogar »Kapitalismus-Kritik« werde eine Rolle spielen, verspricht Karolyn Krusti-Dingsda. Und zu den klassischen Ausstellungsorten in Kassel kämen neue hinzu, »etwa ein Kino und ein Hotel«. Warum? Weil in Kassel Grenzen überschritten, Standpunkte hinterfragt und Orte konsequent gefühlt werden, wie die oberste kommunale Kunstbüx so mitreißend formuliert: »Ich interessiere mich für Innen und Außen, Außen und Innen, für das Gefühl, an einem Ort zu sein und gleichzeitig nicht an einem Ort zu sein. Ich interessiere mich dafür, das Gefühl zu stören, daß du am rechten Ort zur rechten Zeit bist. Dies hat bestimmte Konsequenzen für die Orte.« Richtig so!

Kunst lebt vom Widerspruch
Gute Kunst kostet

Wenn dOcUMenTA )13( ist, müssen sich die Orte warm anziehen, und die Toiletten erst recht: »Aber es wird auch Örtlichkeiten geben, die zuvor benutzt wurden. Ich mag auch irgendwie ›normal‹ sein. Das Fridericianum beispielsweise ist normal.«

Rechnerisch werden über 150 Künstler aus 55 Ländern an der DOCUMenta 1(3) teilnehmen. Die meisten seien zwar irgendwie Künstler, sagt Christolyn Cyryl-Bulgakov, da sie nun aber mal den Kunstbegriff so was von erweitert habe, kämen manche auch aus der Wissenschaft, »einschließlich Physik und Biologie, Ökoarchitektur und organische Agrikultur, der Forschung nach erneuerbaren Energien, Philosophie, Anthropologie, ökonomische und politische Theorie, Sprach- und Literaturwissenschaften, einschließlich Fiktion und Poesie«. Und wenn die Arbeitsagentur Kassel noch einen drauflegt, werden auch Gipser, Abdecker, Zerspanungstechniker, Handelsfachpacker und Gebäudemechatroniker für unvergeßlich erbauendes Kunst-Feeling sorgen. Auf der δΦCUmeИTД (XIII) soll neben Malerei, Skulptur, Performances, Fingerfarbschmierereien, Fotografie und Pornovideo mit Geschrei und Altensingkreismusik freilich auch Forschung und Archivierung, »aber auch andere Objekte und Experimente auf dem Gebiet der Kunst, Politik, Literatur, Philosophie und Wissenschaft« geboten werden sein sollen dürfen.

Kunst kommt von Kassel

Der Beitrag aller Teilnehmer werde darin bestehen, »sich die Welt neu vorzustellen«, freut sich Chrystina Crispi-Baggala (aus New York!! Hallo!!!) und ergänzt grenzgenial: »Was manche dieser Teilnehmer tun, und was sie in der dÖCUMENTÄ (13) ›ausstellen‹, mag Kunst sein oder auch nicht.« Kein Wunder, denn da Kunst in erster Linie verstören und irritieren soll, wurden über 150 Kasseler Bürger als Kunstführer oder auch nicht (»als weltgewandte Begleiter«, so Cunstbüx Crystyna) rekrutiert. Manche sollen sogar als »lebende Bilder« auftreten. Ganz so, wie man es aus gemütlichen, weltoffenen Fußgängerzonen kennt. Schon jetzt freuen sich die Darsteller so beliebter Skulpturenmotive wie »schlafender Penner«, »bettelnder Roma ohne Obdach« oder »pissender Punk« auf die hunderttägige docuMENTA 1,3☺, die den erwarteten 1,3 Mrd. Gästen aus aller Welt Kunstgenuß pur und klassische Hotellerie auf höchstem Kasselaner Nachkriegsstandard verspricht.

Als Hauptsponsor der dOOOOOOCCCC--UMenT@13 konnte der Volkswagen-Konzern gewonnen werden, der vielen Kunstfreunden durch seine aufregenden seriellen Skulpturen VW Golf, VW Polo und VW Passat ein stehender, wenn nicht sogar rollender Begriff ist. Da Ai Weiwei, der für die letzte documenta XII immerhin ca. 1000 lebende Chinesen anschleppte, inzwischen zu teuer ist, wird irgendein anderer chinesischer Künstler, den die HNA, die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine schon jetzt respektvoll »ein chinesischer Künstler« nennt, dieser Schlitztiger also wird »in der DoCUmenTa-Halle 360 Gemälde ausstellen, die im Verlauf der Ausstellung nach und nach im Werk Baunatal mit monochromen Farben übermalt werden«. Und das ist bestimmt das beste, was diesen Chinesererbildern passieren kann – so mögen sie später als Plakatwände oder Dämmplatten dienen und einer nachhaltig sinnvollen Verwendung in der historischen Kasseler »Erkenntnislandschaft« (CCB aus NY) zugeführt werden.

Kunstführer helfen vor Ort
Kunsterlebnislandschaft Kassel

Kunst, so weit das Auge wandern kann. Keine Frage, Kassel kann’s. Der Eintrittspreis ist hoch, aber es lohnt sich wahrscheinlich. Neben einigen Originalen von Leuten, deren Namen man noch nie gehört hat, werden natürlich auch jede Menge teure Fälschungen von berühmten Künstlern zu sehen sein. Vierzig Prozent aller Werke auf dem Kunstmarkt sind bekanntlich Fälschungen – das sei eine schockierende Zahl, sagt Karoline Curatov-Bagynskilevkowa, da wolle sie deutlich mehr bieten: mindestens 50 Prozent. Deshalb soll neben wahrer, großer Kunst auch echtes, gehobenes Kunsthandwerk aus vietnamesischer Hinterhofproduktion zu sehen sein, z.B. Arbeiten von Gerhard Standgerichter, Anselm Unterkiefer und Neonazi Rauch oder auch gerne Ihr persönliches Lieblingspaßfoto in Öl. Insgesamt sollen Bilder im Wert von rund 22 Milliarden Euro zu sehen sein, die großen Bunten sind etwas teurer als die kleinen Schwarzweißkopien.

Wir dürfen gespannt sein wie verrückt und sind es auch. Nur auf ein Kunstwerk sind die Menschen in und um Kassel nicht mehr so gespannt – denn schon vor zwei Jahren wurde im Aue-Park das erste Werk der ()()dѲCUm€nTϪ()()1.³ vorgestellt, Guiseppe Penones »Ansichten eines Steins«: Ein neun Meter hoher Bronze-Baum, der in seinen Ästen einen großen Stein trägt. Von Hunden und Betrunkenen wurde die Freiluftskulptur längst begeistert angenommen.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt