Inhalt der Printausgabe
Trendsport Medienverzicht: Alle machen mit!
Vier Wochen ohne…
Für Journalisten ist es die kostbarste Idee des Sommers: eine Weile auf Internet, Handy und Mails zu verzichten – und dann ein langweiliges Buch oder wenigstens einen langatmigen Artikel darüber zu verfassen. Doch warum immer nur den angesagten Onlinemedien entsagen? Sechs TITANIC-Redakteure gingen für Sie durch die Hölle, lebten vier Wochen ohne…
…Tageszeitung
Auf meine geliebte Tageszeitung zu verzichten war vor allem eines: teuer! So mußte ich vier Wochen lang meinen Fisch in Alufolie einwickeln und den Boden im Hof mit kostbarem Geschenkpapier auslegen, wenn ich nur mal schnell mein Fahrrad lackieren wollte. Aber natürlich fehlte auch etwas Ideelles: dieses wunderbar melancholische Déjà-vu-Erlebnis, wenn man die Netz-Nachrichten von gestern noch einmal auf Papier vorgesetzt bekam – selbstverständlich mit eigenem Dreh und je nach Blatt unterschiedlich unterschlagenen Informationen. Am Ende vermißte ich sie sehr, die Privatobsessionen und Kleinkriege der Edelfedern – seien es willkürliche Rücktrittsforderungen gegen bisher unbescholtene Politiker (Roland Pofalla, Adolf Sauerland) oder brandaktuelle Warnungen vor der wachsenden Macht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auf diese Vielfalt möchte ich künftig nur noch verzichten, wenn man mir die Ausgaben für Alufolie und Geschenkpapier erstattet.
Alexander Golz
…Fernsehen
Mein Leben war spannend. Zu spannend! Ich lebte in dem hochgetakteten Rhythmus, den mir die TV-Zeitschriften vorgaben. Selbst am Arbeitsplatz mußte ich ständig erreichbar sein – für die Strahlen vom Funkturm, das permanente elektronische Bombardement von über vierzig Programmen via Mini-LCD-Fernseher. Vier Wochen Verzicht würden mir gewiß guttun.
Dachte ich. In der ersten Woche starrte ich die Bürowand an. Keine interessanten Gesichter, kein pulsierender Soundtrack, keine raffinierten Subplots, keine raschen Schnitte – was für eine verschnarchte Scheiße war das denn? Und wann pinkelt man eigentlich, wenn es keine Werbepausen gibt? In der zweiten Woche mischte ich mich unter Menschen, traf am Kopierer sogenannte Kollegen. Furchtbar. Was für ein endloses Gelaber. Cut! Cut! Cut! In der dritten Woche versuchte ich es mit Meditation, in der vierten mit butterweichen Drogen – beides ohne Fernseher praktisch nicht auszuhalten. Mein Fazit: nie wieder. Dann lieber Herzinfarkt!
Mark-Stefan Tietze
…Literatur
An der Oberfläche bleiben, Unwichtiges mit sensationsheischenden Phrasen aufblasen, Eitles und Nichtiges in agrammatische Stummelsätze packen – das ist für mich als Journalist Alltag. Daher war es mir besonders unangenehm, vier Wochen lang auf Literatur zu verzichten. Updike, Genazino, García Márquez, ganze Nächte lang waren sie meine Empathielieferanten gewesen. Kafka, Dostojewski, von Hirschhausen hatten mit ihren tiefster Seelenqual abgerungenen Dings, ehm, Sätzen, mein Bedürfnis nach menschlicher Empfindsamkeit gestillt. Ohne sie, merkte ich bald, wurde ich endgültig zum – na – zum seelenlosen Wortarbeiter, der noch mit der abgeschmacktesten Verzichtsidee, wie heißt das, ach ja, Geld und Aufmerksamkeit einzuheimsen versuchte. Leider kam es auch so, daß ich über fünf Sätze hinaus nicht mehr so fit im »mich Ausdrücken« bin. Nix mit Buchvertrag und Titelstorys also. Muß vom Zeilenhonorar anspruchsloser »Allesabdrucker« leben.
Tim Wolff
…Medien
Es fiel mir nicht ganz leicht, aber während der letzten vier Wochen habe ich konsequent auf jede Mediennutzung verzichtet. Konkret bedeutete das: keine spiritistischen Sitzungen, kein Besuch bei meiner Voodoo-Beraterin, und auch die wöchentliche Freitagnacht der Seancen entfiel komplett. Besonders schwierig war es, die Stimmen in meinem Kopf zu ignorieren, die mir sonst mit guten Ratschlägen hilfreich zur Seite standen (»Wenn du es baust, wird er kommen«, »Töte! Töte sie alle!«). Von der Informationsquelle Jenseits abgeschnitten, entwickelte ich zwangsläufig neue Lösungsstrategien, die ich jetzt aber als Bereicherung empfinde: Statt rätselhafte Flammenschriften am Himmel zu deuten, schaue ich nun wieder häufiger bei Twitter vorbei; bei Konflikten mit Kollegen suche ich nun eher das Gespräch, als ihre Seelen in blutigen Ritualen dem Äußeren Dunkel zu opfern. Auf jeden Fall ein Gewinn für das Betriebsklima!
Leo Fischer
…Briefe
Für mich und meinesgleichen bedeutet »Kommunikation« vor allem: Briefe schreiben. Als einziges Geräusch hören wir Federstriche auf dem Papier. Später ist vielleicht das heimelige Brummen des Backofens zu vernehmen, in dem wir das Siegelwachs heiß machen. Danach das Zwitschern der Brieftaube, der wir das korrekt adressierte Kuvert ans Hinterbein binden und ihr einen blanken Blechgroschen unter den Flügel klemmen, damit sie sich die beschauliche Fahrt mit der Postkutsche leisten kann. Und kehrt dann die Postkutsche zurück, sieht man sie schon von weitem herbeirollen, ein hölzernes Idyll, das immer näher kommt, am Stubenfenster vorbeirumpelt, wiehernd tönt der Pferde Gruß bis ins Schlafzimmer herein, daß alle Karaffen im Geschirrschrank zerspringen, das Posthorn kreischt, und wenn der betrunkene Postkutscher gegen die Haustür stolpert und ein Fluchen losbricht, daß man meint, er bringe Nachricht direkt aus der Hölle, dann, ja dann wünscht man sich zurück in ruhigere Zeiten, Zeiten des Innehaltens, Zeiten der Stille… Zeiten ohne Postkutsche jedenfalls.
Ich habe es versucht, und ich muß sagen: Mir geht es fabelhaft, und ich habe plötzlich Zeit. Zeit für mein Hobby, die Ballonfahrt; Zeit für meinen Studienabschluß in Phrenologie; Zeit für die Familie. Nächste Woche fahren wir zum ersten Mal seit langem wieder gemeinsam in den Urlaub, nach Konstantinopel, um Dodos zu jagen. Waidmannsheil! Und danke, Briefeverzicht!
Michael Ziegelwagner
…Gespräche
Als Chef-Layouter denke ich in Bildern, Pixeln, Seitenzahlen – abstrakt, geradlinig und mit ausreichend Weißraum zwischen den Gedanken, um stets ein Höchstmaß an Klarheit und Wahrheit zu erreichen. Der Mensch braucht aber auch das Profane, Ausschweifende, Eiernde. Das erledige ich im Gespräch mit meinen Kollegen, trinke mich eigens mit Bier auf ihr Niveau hinunter.
Auf diese Gespräche zu verzichten war die größte Herausforderung meines Lebens. Auf einmal war ich mit der Größe und Präzision meiner Gedanken alleine, hatte nichts, das mich am Boden hielt. Mein Kopf lief regelrecht heiß. Ich versuchte es eine Weile mit Selbstgesprächen. Doch es half nichts: Immer verstand ich genau, was ich meinte, egal, wie irrsinnig ich es ausdrückte.
Dann fand ich eine Lösung: das Internet! Spammails zu beantworten und Youtube-Kommentare zu kommentieren ist sogar noch befreiender als das persönliche Gespräch. Jetzt, da ich wieder mit Ihnen reden darf, kann ich verraten: Für mich ist der Beweis erbracht, daß es irgendwie mal ganz schön war, auf etwas zu verzichten. Aber es geht immer irgendwie. Prost!
Tom Hintner