Inhalt der Printausgabe

Die Luxuszelle: Pracht, Komfort und Zimmerservice. Wer hier Handtücher klaut, kommt ins Gefängnis.

 

1250 Haftplätze, 600 Gummiknüppel, 80 Jahre Betriebserfahrung. Das Leben im »Rudolf Heß-Gedenkgefängnis« im Herzen von Berlin-Spandau zeugt vom alten Glanz des Einsperrens. Eisernes Sparen, immer weniger Personal und das Diktat des Menschengerichtshofs sind schuld daran, daß nicht alle Insassen gehalten werden können. Ein Besuch

 

Hier kommt nicht jeder rein. Machtvoll erheben sich die Stahlmauern aus Backstein, majestätisch grüßen die vergitterten Erker ins weite Land. Das »Rudolf Heß-Gedenkgefängnis« ist ein Traditionsbetrieb. Seit über 80 Jahren steht es für Sicherheit mit fünf Sternen, für Wegschließen auf höchstem Niveau. Das Vorhängeschloß am Eingangstor ist zweimal abgesperrt, der Briefkasten voll, die Katzenklappe zugeklappt. Immer noch stapeln sich die Haftanträge, immer noch sind die meisten Zellen auf Jahre ausgebucht. Aber im Betongemäuer zeigen sich erste Risse. Waren vor 50 Jahren noch drei Wärter für einen Häftling zuständig, so kommt heute ein Wärter auf 82 1/2 Insassen. Waren die Mauern früher fünf Meter dick, sind sie jetzt auf vier gebröckelt. Wo an Substanz und Personal gespart wird, da wandern die Häftlinge ab – wie zuletzt in der JVA Aachen, wo ein chronisch unterbezahlter Wärter zwei Insassen entgeltlich den Aufenthalt verkürzte. Kaum hatten Deutschlands Gefängnisse den Fall verdaut, hob der Europäische Menschengerichtshof die »unbefristete Sicherungsverwahrung« auf. Rechtskräftig verurteilte Insassen werden seither nach dem Absitzen ihrer Strafe einfach nach Hause geschickt, anstatt so lange in der Anstalt bleiben zu dürfen, bis sie wieder mit der Freiheit umgehen können. Für die Gefängnisse bedeutet das: leere Zellen, leere Kassen. Wie gehen Gefängnisbedienstete mit dieser Situation um? Was unternimmt ein Vorzeigegefängnis wie das »Heß« gegen Personalmangel, Sparzwang und den Europäischen Menschengerichtshof?

 

Den familiären Charme hat es noch nicht verloren: Im »Heß« öffnet der Gefängnisdirektor selbst die Tür. »Herzlich willkommen!« begrüßt uns Michel Feuilleton, Anstaltsleiter seit 1984, »kommen Sie ruhig rein, ich laß Sie schon wieder raus, haha!« Sein kahles Haupt glänzt vor Enthusiasmus und Regentropfen, als er uns durch den Innenhof geleitet, einen Damenschirm über unsere Köpfe haltend. »Die da drinnen«, schmunzelt Feuilleton und weist auf die Zellenfenster, »die können liegenbleiben. Die müssen nicht raus in den Regen, können sich noch mal auf die Pritsche kuscheln oder einfach die schwedischen Rolläden hochziehen.«

 

1250 Häftlinge, 15 Justizbeamte. Wie jedes Gefängnis besteht auch das »Heß« aus zwei Welten, die nahe beieinander liegen: Auf der einen Seite die geknechteten Kreaturen, im Hamsterrad der Sinnlosigkeit gefangen, rund um die Uhr, Tag für Tag – auf der anderen Seite die Häftlinge. Dort herrscht Müßiggang, hier mühsame Papierarbeit; dort fläzt man sich in Hängematten, zappt sich durchs Pay-TV und bekommt sanfte Gummimassagen vom Wärter; hier knirscht traurig der Aktenvernichter. Die kargen Bürobutzen sind zwischen die Hafträumlichkeiten gequetscht.

Schließer aus Leidenschaft

Gerade hat Bereichsleiter Hubert Straph in Trakt A sein Tagwerk begonnen. Er bearbeitet Anmeldeformulare und lehnt Bewerbungsschreiben ab. »Ich wollte immer schon ins Gefängnis«, meint Straph. Doch für einen schlau eingefädelten Rififi-Einbruch fehlten ihm Raffinesse und eine Schaufel, für ein Kriegsverbrechen der Krieg, zum Asylantrag die Hautfarbe. So reichte es nur zum Justizbeamten. »Ich habe schon als Kind ganz gerne den Meerschweinchenkäfig bewacht«, erzählt er mit leuchtenden Augen. »Einmal ist Hopsi ausgebrochen. Die Freiheit hat ihm nicht gutgetan: Er ist wie verrückt durchs Zimmer gelaufen, hat meine Barbie gefressen und schließlich auf den Teppich uriniert.« Straph schüttelt den Kopf. »Hopsi war in der Freiheit nicht resozialisierbar.« Mit tragischen Folgen: Das Meerschweinchen kam unter die Reifen. »Ich mußte dreimal mit dem Fahrrad ansetzen, bis er verstand, daß die Sicherheit des Käfigs besser für ihn gewesen wäre.« Heute ist Hubert Straph melancholisch geworden und abgestumpft, sein Feuer hat er verloren. »An mir sieht man ganz gut, was das Gefängnis aus einem Menschen machen kann«, sagt er. Direktor Feuilleton patscht dem Schließer tröstend auf die Schulter. »Er gehört noch ganz zur alten Schule«, erklärt er, während er die Tür hinter Straph zusperrt, »seit die Sicherungsverwahrung weg ist, fällt es ihm schwer, den Job weiter mit einem grausamen Lächeln auf dem Gesicht zu erledigen.«

Das Rudolf Hess-Gedenkgefängnis: Strafvollzug mit Stil. Wie lange noch?

Vor allem, wenn man sieht, wie die alte Pracht des »Heß« heute brachliegt. Feuilleton öffnet Zelle 105. »Gute, solide Wertarbeit!« schwärmt er. »Dicke Mauern, die Regen, Sonnenschein und den Verwandtenbesuch draußen halten. Sehen Sie mal, wie bequem man vom Bett zur Toilette kommt! Kurze Wege, alles in wenigen Schritten erreichbar – ein Rundum-Angebot! Und der Boden ist so sauber, daß man davon essen muß.« Seit der Gefängnisgründung war die Zelle belegt. »Die Leute denken, daß es immer genug Häftlinge geben wird. Aber dazu braucht es auch die richtigen Gesetze!« Nach dem Ende der Sicherungsverwahrung steht diese Zelle als erste leer, ungenutzt hängt der Edelschimmel an den mannshohen Wänden. Sogar die Schaben sind ausgezogen.

 

Noch viel trister sieht es im Keller aus. Hier werden die Räume seit Jahrzehnten nicht genutzt: Dem Gesetzgeber waren Ein-Quadratmeter-Verliese und die praktischen, an die Wand geschmiedeten Eisenketten nicht zeitgemäß genug. An der Hinrichtungswand hängt ein Schild: Schießen verboten. »Mein Vorvorgänger hat hier noch selbst Vernehmungen durchgeführt, Methoden der Leibesvisitation verfeinert«, meint der Direktor. »Wir haben immer noch jede Menge Inventar aus alter Zeit, das wir nicht nutzen dürfen. Unsere Streckbank zum Beispiel setzt schon Rost an und zieht stark nach links. Ich wüßte gar nicht, wo man da heutzutage günstig Ersatzteile bekommt! Vielleicht IKEA?«

»Nicht nur unsere Insassen sind verschlossene Menschen«

Michel Feuilleton führt uns in sein Sicherheitsbüro, das leicht erhöht im Zentrum der Anlage liegt. Von hier aus kann er alles überblicken. Sein Schreibtisch steht in der Mitte des Raumes, von dem aus er die vier Eingänge genau im Visier hat.

 

»Darf ich Ihnen ein Glas Gitter Lemon anbieten?« fragt Feuilleton. »Ein wenig Keksbruch ist auch noch da. Mahlzeit!« Er lehnt sich in den Stuhl, wippt vor und zurück, schiebt die Brille auf die Glatze und wird nostalgisch. »Wir hatten achtzig Jahre lang volles Haus. Wer einmal hier war, blieb unserer Anstalt verhaftet. Heute macht uns der Menschengerichtshof die Zellen leer. Fünfzehn Jahre Höchstverwahrung! Gerade, wenn man sich an das Gefängnisleben gewöhnt hat, muß man wieder raus! Wie können wir unter solchen Umständen unsere Häftlingsquote halten? Das ist die Frage.«

Das Wochenmenü: Gutgenährte Insassen erreichen selten Fluchtgeschwindigkeit
Das Fenster: Zweimal pro Woche gibt es offenen Durchzug
Die Lobby: Justizvollzugsbeamte haben keine

Der Standort »Heß« müsse wieder attraktiver werden, meint der Direktor und wippt schneller: »Früher hatten wir Größen wie Martin Semmelrogge. Bubi Scholz hat in der Küche den linken Schürhaken geschwungen, der Laden hat gebrummt. Heute bemühen wir uns, Kachelmann reinzubekommen, oder wenigstens den Mixa. Sowie die Prominenten hier absteigen, kommt auch Otto Normalverbrecher zu uns. Da bin ich ganz sicher.« Doch ist das nicht die einzige Strategie: »Wenn der Delinquent nicht ins Gefängnis kommt, muß das Gefängnis zum Delinquenten kommen. Wenn uns der Europäische Menschengerichtshof die Insassen nach fünfzehn Jahren plötzlich wegnimmt, dann müssen wir zu den Insassen. Zum Beispiel habe ich mich jetzt auf Facebook angemeldet, all meine ehemaligen Schützlinge geaddet, um ihre Statusmeldungen im Blick zu behalten. Sobald einer reinschreibt ›Exknacki82 geht jetzt mal zur Bank‹, werde ich hellhörig.«

»Der Menschengerichtshof gehört weg­gesperrt!«

Michel Feuilleton wiegt sich immer heftiger auf seinem Stuhl: »Wir wollen auch mit den Familien der Entlassenen kooperieren. Wenn die ein bißchen weiterüberwachen oder das schwarze Schaf abends im Zimmer einschließen, ist uns allen geholfen. Und was spricht dagegen, wenn der Häftling nach seiner Entlassung eine Polizistin heiratet? Oder sich zum Polizisten ausbilden läßt, um sich selbst zu überwachen? Möglich ist alles!« Die Begeisterung des Direktors steigt. Er hat begonnen, sich auf seinem Drehstuhl zu drehen; kaum, daß wir ihm folgen können. »Wir müssen lernen«, ruft er, »unser eigener Häftling zu sein! Ein inneres Gefängnis zu errichten! Sich selbst zu beschränken, mal morgens einfach im Zimmer bleiben, die Freiheitsgefühle ganz tief in sich wegsperren… oder ein äußeres Gefängnis! Ein Mobilgefängnis für jeden, das man überallhin mitnehmen kann! Warum nicht? Stellen Sie sich vor, dieser Aktenschrank dort drüben hätte Räder untendran, dann müßte ich einfach nur reinsteigen… rollen Sie mir doch mal nach! …einfach nur reinsteigen und genießen! Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn eine total humanisierte Gesetzgebung plötzlich die gefängnislose Gesellschaft verwirklicht! So, können Sie mal abschließen? Danke! Unsere Freiheit ist ein großes Privileg! Wer kann sie denn überhaupt noch schätzen, wenn niemand mehr weggeschlossen wird? Zum Beispiel in Aktenschränke? Sie müssen das unbedingt selbst mal probieren, ein herrliches Gefühl, kommen Sie mal zu mir rein… hallo? Hallo? Sind Sie noch da?  WAAACHEEEN!«

 

Das »Gedenkgefängnis Rudolf Heß« – ein Stück Tradition, das zu sterben droht. Noch herrscht volles Haus. Aber um in der Gegenwart anzukommen, braucht es beides: Geld für die Zukunft und Gesetze aus der Vergangenheit. Die Gesellschaft muß wissen, was ihr ihre Gefängnisse wert sind. Denn wenn sie das nicht erkennt, werden sich die Tore des »Heß« bald für immer öffnen.

 

Tim Wolff / Michael Ziegelwagner

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Briefe an die Leser

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/i nnen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt