Inhalt der Printausgabe
»Die Verwirrung nimmt zu«
Deutschland in der 12. Internationalen »Brain Awareness Week«
NÜRNBERG
Hier sind die Hirnkenner in zwei Lager gespalten. Da ist einerseits der Humanistische Verband, ein Bündnis von Freidenkern und Konfessionslosen. Er hat sein Hauptquartier auf der Stadtmauer, genauer gesagt im »Durm der Sinne« (fränk. für »Turm«), einem Erlebnismuseum. Nichts damit zu tun hat das »Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne«, das von den Anthroposophen bestellt wird (»den Anthropodoofen«, Zitat die Claudia vom Durm). Die Anthroposophen bieten den üblichen Eso-Hokuspokus an, während der Durm versucht, der Bevölkerung wissenschaftliche Erkenntnisse über das Gehirn verständlich zu machen. Ein Ziel, in welchem sie einen mächtigen Verbündeten haben: VAAS.
VAAS ist eine galaktische Superintelligenz aus einem Paralleluniversum, dem sogenannten Kronzucker-Kosmos. Da Superintelligenzen nur im Hyperraum existieren können, hat VAAS einen »Anker« in unser Standarduniversum entsandt, um mit uns Kontakt aufzunehmen. Im konkreten Fall heißt diese Inkarnation Rüdiger, ist Perry-Rhodan-Fan, Redakteur bei Bild der Wissenschaft und Beirat der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung. VAAS kann Teile seines Bewußtseins in Realraummaterie umwandeln; diese »Bücher« genannten Objekte sind für die Terraner dann versteh- und sogar kaufbar. VAAS nutzt die »Brainweek«, um sein neuestes Buch vorzustellen (»Schöne neue Neuro-Welt«, Hirzel 2008, 19,80 €); wir nutzen sie, um einen Interviewtermin mit VAAS wahrzunehmen.
Den Ankündigungen der Durmgesellschaft entsprechend wird sich VAAS an diesem Dienstagabend im Nürnberger Buchhaus Campe manifestieren, und zwar zwischen den Bereichen »Reise«, »Lebensberatung« und »Liebe und Partnerschaft«. Gespannt ruckeln die Besucher mit den Stühlen. Ein Erlebnis für alle türmenden Sinne ist ein älterer, stark überpflegter Herr mit schulterlangem Grauhaar, der sich spaßeshalber wie der Rosenkavalier angezogen und ca. zwölf Fläschchen Kölnisch Wasser aufgetragen hat. »Wir hocken uns mal hierher, denn da vorn ist ein Parfum, daß einem die Sinne schwinden«, sagt ein Paar.
VAAS interessiert sich für »die Zukunft unseres Gehirns«, will unsere Intelligenz auf ein galaktisches Niveau heben. »Ihr Gehirn wird sich während meines Vortrags verändern«, droht er; Nietzsches »Also sprach Zarathustra« wird zitiert. Die Tests, denen VAAS uns repräsentativ für die ganze Menschheit unterwirft, sind vor allem moralischer Natur: In einem Beispiel droht ein Zug, fünf auf dem Gleis werkelnde Arbeiter zu überfahren; durch ein Weichenstellen könnte man ihn allerdings auf ein Gleis umlenken, auf dem nur einer sitzt. »Wer von Ihnen würde so etwas tun?« Ein stattlicher Teil der Anwesenden hätte damit nicht die geringsten Schwierigkeiten; eine zäh dreinblickende Matrone würde sogar einen dicken Mann auf die Schienen schubsen, wenn der Zug dadurch zum Halten gebracht werden könnte.
Der parfümierte Silberrücken wird nervös, als VAAS das Thema »Religion und Gehirn« anreißt. Fragen wie: »Haben wir im Gehirn eine Hotline zum Himmel – oder gibt es dort ein Gottesmodul, das bei Atheisten nicht richtig funktioniert?« lassen ihn zucken, die Zuspitzung: »Kommt nach dem iPod der iGod?« gar empört »Giordano-Bruno-Stiftung!« krähen und mental schon mal am Scheiterhaufen zündeln. Als es an die Fragen aus dem Publikum geht, reißt es ihn aus seinem Sitz: »Vielen Dank für Ihren Vortrag und Ihre atheistischen Studien«, sagt er kaustisch, »aber Sie haben in Ihrem Vortrag kein einziges Mal die Wirklichkeit erwähnt. Man weiß ja viel über Wissenschaftler, auch über Frankenstein. Was ist für Sie die Wirklichkeit?« Daß die Aufwertung der Terranergehirne so mühsam werden könnte, verdutzt VAAS; doch er kann nicht verhindern, daß der Atheismuskritiker auch gleich zu einem Kurzreferat über das Thema »Hirn und Politik« ansetzt: »Lübke z.B. war ja krank, aber man hat ihn nicht aus dem Verkehr gezogen. Das totale Rauchverbot. Hunde und Raucher vor die Tür, nicht.« Eine andere, kaum minder phantastische Großmutter will wissen, ob man die Hirnforschung nicht auch dazu nutzen könne, »die Geisteswissenschaftler zu präzisen Formulierungen zu zwingen. Denn das ist schon ein Elend. Man kann mit großem Fleiß neurowissenschaftliche Werke verstehen. Aber die Geisteswissenschaften sind in keiner Weise bemüht, hier ihre Deutung zu haben. Das muß anders werden. Wie kann man sich denn sonst verständigen?« VAAS zögert – für die neurochirurgische Umerziehung von Geisteswissenschaftlern ist die Menschheit offenkundig noch nicht bereit.
Im persönlichen Gespräch verlangen wir von VAAS eine nähere Erklärung seiner Pläne. Ein Brain-Interface, eine neuronale Schnittschnelle ins Internet, wie es dem mitgereisten Fotofranken Tom Hintner schon länger vorschwebt (»Dann könnte ich gleichzeitig denken und trinken«), ist laut VAAS leider noch völlig illusorisch, die höheren kognitiven Funktionen bleiben vorerst unangetastet. Und was ist mit Singer? Hat er recht mit der Willensfreiheit? VAAS antwortet salomonisch: Geht denn von jenen, die die Freiheit leugnen, wirklich die größte Bedrohung aus? Sollte man sich nicht viel eher hüten vor denen, die im Namen der Freiheit alles Mögliche versprechen? Die uns glauben machen, wir seien völlig ungebunden, und uns gerade dadurch um so mehr manipulieren? Betreten wollen wir uns auf den Rückweg machen. Bzw. wir müssen, gezwungen von einem eigenmächtigen Kopfkasten. Dunkel ist das Leben, ist das Hirn!
FAZIT
Im »Städtetest Brain Awareness« nun die Gesamtwertung:
- Frankfurt: insgesamt enttäuschend, aber kostenloser Orangensaft und schöne Infrastruktur
- Neumarkt: im oberen Mittelfeld (die beiden Alleinstellungsmerkmale Bogenschießen und Seniorenverscheißern hauen einiges raus)
- Nürnberg sehr gut, besonders dank Zukunft, Sinn und Atheismus
Also: Wenn Sie sich mal was Gutes tun wollen, fahren Sie doch nach Nürnberg. Und bringen Sie ruhig auch Ihre Hirne mit! Daß die mal rauskommen!
Leo Fischer / Fotos: Thomas Hintner, Till Breyer