Inhalt der Printausgabe
Fünf Leitz-Ordner in Lagos
Auf Staatsbesuch mit Außenminister Steinmeier
Obwohl er in der SPD ist, ist er fast so beliebt wie Angela Merkel. Obwohl er gräßlich schielt, halten ihn die meisten für unbedingt seriös. Und obwohl niemand seinen Namen richtig kennt, würde ihn die Mehrheit der Deutschen nach einem grausamen Unfalltod der Kanzlerin sofort zum Regierungschef wählen. Wer ist dieser Fritz-Walter Steinmeier, der seit etwa zwei Jahren auf Kosten des Volkes durch die große weite Welt düst und deshalb als die große silberne Hoffnung der Sozialdemokratie gilt?
Die Triebwerke des weißen Challenger-Jets heulen um die Wette, die Tragflächen zittern wie Wackelpudding aus Espenlaub. Eigentlich wäre die elegante Maschine mit dem Luftwaffen-Schriftzug jetzt startklar, von Berlin-Tegel nach Lagos in Nigeria soll es gehen, doch wo bleibt Steinmeier? Die Bodyguards neben uns werden rot. Sie haben den Minister angeblich im Duty-Free-Shop aus den Augen verloren; wahrscheinlich am Regal mit den schweren Herrendüften, vielleicht aber auch bei den 400-Gramm-Toblerones.
Staatssekretäre und Referenten bellen in ihre Mobiltelefone. Muß die Reise, müssen Dutzende von Terminen verschoben oder gar abgesagt werden? Ausgerechnet bei den für ihre Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit gefürchteten Afrikanern? Panik liegt in der Kabinenluft, doch nur wenige Minuten später kommt er bereits übers Rollfeld geschlendert, die eine Hand in der Hosentasche, eine prallvolle Einkaufstüte in der anderen, den Mund schokoverschmiert: Steinmeier, der Mann, der sich einfach nicht aus der Ruhe bringen läßt.
Frank-Wilhelm Steinmeier ist ein Phänomen, ein Ausbund an Gelassenheit und Geduld. Das sagen nicht nur seine engsten Mitarbeiter, sondern alle, die ihn schon mal im Fernsehen gesehen und gleich wieder vergessen haben. Tatsächlich hat Steinmeier im Duty-Free-Shop noch schön gemütlich und selbstverständlich zollfrei eingekauft, hat sich geduldig an der Kasse angestellt und mit penibel abgezähltem Kleingeld bezahlt. Seine Beute: fünf Leitz-Ordner im bewährten Wolkenmarmor-Design, zehn graue Durable-Klemmschienen und eine Riesen-Toblerone für zusammen keine zehn Euro. Angesichts dieses Schnäppchens läßt sich der spitzbübisch grinsende Außenminister von uns einige Minuten beklatschen, dann gleitet er in seinen weichen Ledersessel und schläft sofort ein.
Das krachende Gewitter nach dem Start, die heftigen Turbulenzen im düsteren Gewölk, sie vermögen Steinmeiers Ruhe nicht zu stören. Selbst sein Schnarchen ist lautlos wie das eines Murmeltiers. »Sein Gehirn rattert aber weiter«, schreit uns einer der Leibwächter zu, um das gewaltige Lärmen des Unwetters und der brausenden Turbinen zu übertönen. »Die eine Hirnhälfte bearbeitet gerade das Abschlußdokument einer Friedensinitiative für den Nahen Osten, die zweite schreibt den Entwurf für eine neue EU-Verfassung. Und die dritte will die SPD von Grund auf neu gestalten und überlegt sich dafür gerade eine neue Organisationsform.«
»Beck kann es nicht«, sagt er nachdenklich.
Drei Hirnhälften – das erklärt einiges. Denn Nüchternheit und Geduld bilden nur eine Seite des Charakters von Fred-Martin Steinmeier. Die andere Seite besteht aus Geräuschlosigkeit und Effizienz: Was immer er anfaßt, gelingt hundertprozentig, ohne daß es irgend jemand mitbekommt oder auch nur wüßte, worum es überhaupt geht. So klar, strukturiert und langsam, wie er sich bewegt, so führt er auch sein Amt: Eckige Länder kommen in die eine Ablage, runde Länder in eine andere, alles dazwischen in eine dritte. Einmal in der Woche werden sie nach Größe und Bruttosozialprodukt geordnet, neu durchnumeriert und in Leitz-Ordnern abgeheftet. Eine gute Büroorganisation geht ihm eben über alles. Sonst hätte er es als Kanzleramtsminister unter Schröder, »diesem Chaoten«, wie Steinmeier im Rückblick stets sagt, nicht leicht gehabt. Von seiner Zeit als Spitzenbeamter zehrt er übrigens heute noch: Ihr verdankt er das immer noch jugendliche Aussehen, das spitzbübische Grinsen, die sprichwörtliche Gelassenheit. Sechs Jahre Büroschlaf haben dem Mann sichtlich gutgetan.
Im politischen Alltag verbirgt der Minister diese hochkomplizierte Seite seiner Persönlichkeit jedoch hinter einer attraktiven Maske aus Silbertolle, Silberblick und runder Klugscheißer-Brille. Auf den vielen Urlaubsfotos, die es von ihm gibt, zeigt er auch gern die süßen Grübchen her, die sich beim spitzbübischen Grinsen auf seinen Mopsbacken bilden. Frauen lieben das, Kinder ebenfalls, und Möpse sowieso. Kein Wunder, daß es der gelernte Schreibtischtäter zu Deutschlands beliebtestem Sozialdemokraten gebracht hat und in Umfragen weit vor dem lärmend-ineffizienten Kurt Beck liegt.
Das hat mittlerweile auch seine Partei verstanden, und so mancher SPD-Funktionär überlegt sich, ob die sonst klar verlorene Bundestagswahl 2009 mit Steinmeier als Spitzenkandidat nicht noch zu retten wäre. An solchen Spekulationen will sich der soeben erwachte Minister natürlich nicht beteiligen. Er sortiert lieber eine Weile seine Augen und heftet die unterschiedlichen Perspektiven in einem Leitz-Ordner ab. Daß sein Verhältnis zu dem Mann, den er in Interviews »Rampensau« genannt hat, ungebrochen gut sei, sagt er zögernd und gähnt herzhaft. Niemals habe er »Wampensau« gesagt, das sei eine bösartige Unterstellung; Beck sei ohne jeden Zweifel der geeignetste Mann der Partei. Nur zwischen den Zeilen vermag man die eine oder andere distanzierende Bemerkung zu vernehmen.
»Beck kann es nicht«, sagt er zum Beispiel nachdenklich und schaut lange Minuten hinter einer langbeinigen Stewardeß her bzw. mit dem anderen Auge gelangweilt aus dem Fenster. »Jemanden mit bloßen Händen zu erwürgen und in kleine Fleischfetzen zu reißen – Beck kann es nicht.« Und dann gibt er – vermutlich in Anspielung auf den gelernten Beruf des Parteifreunds – einen Witz zum besten: »Was ist der Unterschied zwischen Milchreis und einem Elektriker? Auf dem Milchreis liegen Zucker und Zimt, der Elektriker liegt im Zimmer und zuckt!« Stunden später, als der Jet zum Landeanflug auf den Flughafen Lagos ansetzt, lacht Steinmeier immer noch still in sich hinein.
Tscheng-derassassa! Tscheng-derassassa! Während die unbarmherzige afrikanische Sonne auf den Flughafen niederbrennt, spielt eine Militärkapelle zur Begrüßung eine schmissige Version von Geldofs »Do They Know It’s Christmas«. Steinmeier wird vom stellvertretenden Stellvertreter des nigerianischen Außenministers herzlich umarmt und nach Waffen durchsucht, dann geht es gleich weiter zum Präsidentenpalast. Die Fahrzeugkolonne schießt mit zweihundert Sachen über die Piste, vorbei an armseligen Hütten, kargen Feldern und prächtigen Shell-Tankstellen. Plötzlich gibt es weiter vorne einen dumpfen Schlag: quietschende Reifen, krachendes Metall, splitterndes Glas, ein schreiender Esel. Der Troß kommt zum Stehen, Steinmeiers Mercedes hängt leicht beschädigt im Straßengraben. Ein alter Mann hockt mit zerknickten Gliedmaßen daneben und blickt fassungslos auf seinen ehemaligen Eselskarren.
Klar ist: Der Mann will ganz nach oben.
Steinmeier räkelt sich im Wageninneren. Er öffnet nacheinander die Augen, checkt die Mails auf seinem Blackberry und entsteigt dem Wrack. »Machen Sie doch bitte mal die Kameras aus«, sagt er. »Das Folgende bitte ich vertraulich zu behandeln.« Mit ausgestreckter Hand geht er auf den verletzten Alten zu, versetzt ihm reichlich Ohrfeigen und prügelt ihn tüchtig in den Straßengraben. Die Bodyguards schieben uns weg, während wir aus dem Graben seltsame Würge- und Reißgeräusche hören.
Steinmeier lächelt spitzbübisch, als er zurück zu uns in den Wagen steigt. Seine silberne Haartolle ist ein bißchen verwuschelt, seine Augen tanzen zufrieden hinter der Brille hervor. »Soviel Zeit muß sein«, bricht er das Eis, »bei diesem Murat Kurnaz hatten wir ja auch alle Zeit dieser Welt«, und alle prusten los. Nachdem er sich gekämmt und das Blut vom Revers gewischt hat, dürfen auch die Kameras wieder angeschaltet werden.
In der Empfangshalle des Palasts wird Steinmeier von Nigerias Staatspräsident Umaru Yar’Adua begrüßt. Der großgewachsene Mann, der Nigeria auf den demokratischen Weg führen soll, ist erst seit wenigen Monaten in seinen vielen Ämtern. Steinmeier zögert nicht, die heiklen Themen Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Gewaltherrschaft gleich in den ersten Minuten anzusprechen. Vor allem das mit den weitreichenden diktatorischen Vollmachten interessiert ihn, und während des folgenden Staatsbanketts gibt der Präsident gerne Auskunft.
»So ähnlich wollen wir das bei uns in der Partei bald auch machen«, lächelt Steinmeier im anschließenden Hintergrundgespräch. In wenigen Monaten wird er nämlich einer der drei stellvertretenden Parteivorsitzenden. Dann soll der Umbau der SPD zu einer kleinen schlagkräftigen Terrorgruppe des neoliberalen Sachzwangs vollendet werden. Die Journalisten jubeln: Nicht umsonst gilt Steinmeier als Innenarchitekt der Hartz-IV-Gesetze, dem Motor des derzeitigen Aufschwungs. Doch was ist mit den Altlasten der Partei, was ist mit Beck? Für den finde sich gewiß auch noch eine Lösung, sagt der Außenminister diplomatisch, man sei einander ja durchaus nicht unsympathisch. Das glauben wir gern. Immerhin ähneln sich beider Lebenswege: Beck war einfacher Handwerker, Steinmeier Tischlersohn. Beide wollten nach oben, beide landeten statt dessen in der SPD. Was Steinmeier aber von Beck unterscheidet, wissen wir inzwischen auch: Steinmeier hat drei Hirnhälften, Beck aber nur eine! Und Steinmeier kann »es«, jedenfalls wenn ihm einer im Weg steht oder beim Hintergrundgespräch die Aktenstapel durcheinanderbringt. Mehr schreibt man dazu besser nicht.
Steinmeier besichtigt noch einige Gefängnisse, läßt sich das Grab des tödlich verunglückten Schriftstellers Ken Saro-Wiwa zeigen und heftet die zu Herzen gehenden Erlebnisse in einem frischen Leitz-Ordner ab. Anschließend bestaunt er ein paar Ölförderanlagen und Raffinerien und nimmt mit dem Staatspräsidenten einen Humpen frisches Benzin zur Brust. Zum Abschiedsfoto sieht man ihn stark beschwipst, aber kaum noch schielend, spitzbübisch grinsend und Arm in Arm mit Yar’Adua – zwischen den beiden stimmt offensichtlich die Petrochemie. Dann geht es gemächlich zurück zum Flughafen.
Die Triebwerke des Challenger-Jets heulen Rotz und Wasser, die Tragflächen zittern wie zwei Parkinsonkranke im Wind. Eigentlich wäre die Maschine jetzt startklar, doch wo bleibt Steinmeier?
Panik wallt auf, als das Flugzeug losrollt, beschleunigt, abhebt und in den blitzeblauen nigerianischen Himmel steigt. Aus dem Cockpit dringen seltsame Würge- und Reißgeräusche, über Lautsprecher meldet sich kichernd eine bekannte Stimme: »Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän Franz-Wayne Steinmeier! Halten Sie sich gut fest! Juu-huu!« Der Jet vollzieht Loopings und stößt steil in die Luft, Gepäck fliegt durcheinander, die Herren von der Presse übergeben sich in ihre Stofftaschentücher. Und langsam wird uns klar: Außenminister Steinmeier, der ruhige Mann, der immer für eine Überraschung gut ist, will weiterhin ganz nach oben.