Inhalt der Printausgabe

Die netten Linken von nebenan

 

Auch im Westen probt die frisch gegründete »Linke« jetzt den Marsch in die Mitte der Gesellschaft. Jetzt wehren sich die guten Deutschen gegen die sympathischen Bolschewiken

 

Von Gärtner/Nagel und dpa (Fotos)

 

Auf den ersten Blick ist es ein Kinderfest wie jedes andere: Es gibt Kaffee und Kuchen, eine Tombola (Hauptpreis: ein Euro), auf der ­Bühne spielt eine Dixie-Kapelle die letzten Hits von Tokio Hotel. Junge Eltern sehen ihren Kindern beim Matschkuchenessen zu, zwei Rentner grillen ihre Krawatten, ein junger Mann verteilt Luftballons. Trotzdem ist irgend ­etwas anders als bei anderen Kinderfesten im Sauerland oder anderswo. Auf den Luftballons steht »Mindestlohn für alle«, die Hüpfburg ist tiefrot, und der Kaffee kommt, fair gehandelt, von kubanischen Genossenschaftsbauern und schmeckt sehr gut.

 

Durk Schilz, 42, Vater zweier Söhne im Hilfsschulalter, kann seinen Argwohn nicht ver­hehlen und erklärt dem uninformierten Be­sucher, was seiner, Schilzens, Ansicht nach faul ist am Kinderfest von Grevenstein: »Der Kaffee ist zu süß und die Steakbrötchen sind aus. Außerdem ist alles voll mit sulib… subilim… unterschwelliger Linkspropaganda. Da, sehen Sie sich nur die riesige Plakatwand an: ›Für das Glück unserer Kinder – Nieder mit dem Imperialismus! Die Linke‹.«

 

Schilz ist SPD-Mitglied, überzeugter Grün-Wähler und Vorsitzender des ­August-Bebel-­Vereins für Toleranz und Harmonie, und er führt genau Buch über die, wie er sagt, Brand­stifter, die sich als Biedermänner geben: »15. Juni: ­Linke legen einen nichtkommerziellen Aben­teuer­spielplatz mit Friede-den-Hüttenbau­bereich an. 20. Juni: Kostenlose Nichtsverkaufsfahrt mit dem Seniorenbus ins Rothaargebirge. 27. Juni: Filmnachmittag in der Kita mit den Thälmanntubbies und der ›Roten Zora‹.« Unter dem Deckmantel sozialen Engagements schleichen sich die Linksextremen in die Mitte der Gesellschaft, helfen der Oma beim Einkaufen, organisieren Konzerte und jagen Nazis aus der Stadt. Zu erkennen sind die Linken dabei längst nicht mehr an Che-Buttons, Rastafrisuren und gebatikten Jute-Uniformen; sie kommen als ganz normale, aufrechte Bürger daher – und haben doch nichts im Sinn als die Abschaffung des Nationalstaats und eine friedliebende, ­humane Gesellschaft ohne Ausbeutung und Repression.

 

Eine Entwicklung, die die Zivilgesellschaft Grevensteins mit wachsender Sorge betrachtet. Erzählt werden Geschichten von Jugendclubs, von Teenagern, die den Raum betreten mit der geballten Faust zum Kommunistengruß und einem »Rotfront!« dazu; erzählt wird von ­Lehrern, die auf Schulhöfen stapelweise linksextremistische CDs von Bands wie Tocotronic, den Liben Onkelz oder Wir sind Helden der Arbeiterklasse beschlagnahmen und sie dann bei Ebay verhökern. Erzählt wird schließlich von jenem 1. Mai, als stocknüchterne Jugendliche an einer gesicherten Feuerstelle drei Exemplare von »Mein Kampf« verbrannten, ohne daß die Polizei dagegen einschritt. Es sind kleine, lokale Ereignisse, die emotional und manchmal auch dramatisiert vorgetragen werden, aber hört man diese Geschichten einen Vormittag lang, fragt man sich, was es genau bedeutet, in einer der stabilsten neoliberalen Kapitaldiktaturen der Welt zu leben.

 

 

Rosa Liechtenstein, 26, ist eine unscheinbare junge Frau, in deren Buchladen Durk Schilz bis vor kurzem seine Schwerhörbücher bestellt hat. Bis dem Lehrer für Urgeschichte und Wintersport auffiel, wie viele Regale mit verfassungsfeindlicher Literatur bestückt ­waren: Bakunin, Lenin, Gremliza. Auch ­störte ihn eine Autogrammstunde des linken Ultras und Liedermachers Franz Josef Degenhardt, ganz zu schweigen von dem Aufkleber an der Registrierkasse: »Eigentum ist Diebstahl«. Wenn man Liechtenstein im Café trifft und reden läßt, dann hört sie nicht mehr auf und sagt Sachen wie: »Erich Honecker war ein absoluter Idealist, vergleichbar mit Gandhi.« Oder: »Einen Latte mit Schoko, bitte.« Oder: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Das sagt sie auf der Straße aber eher selten; vielmehr kennt man sie in Grevenstein als engagierte Reformkostnudel und Vorsitzende des Elternbeirats, Sprecherin der örtlichen Initiativen »Darmkrebs-Früherkennung bei Schulkindern« und »Autofreie Vorstadt«. Daß sie nebenher klammheimlich an der Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung arbeitet und als Kreisvorsitzende der »Linken« für den Sieg des Bolschewismus eintritt, haben die meisten Grevensteiner erst spät gemerkt. Ein erstes Flugblatt gegen die, wie die Grevensteiner es empfinden, Unterwanderung ihrer Gemeinde wurde entworfen, aber niemand fand sich, dafür verantwortlich zu zeichnen, wie es das Gesetz verlangt – aus Furcht, von Liechtenstein zu einem freundschaftlichen Plausch bei Ökokaffee, Vollkornkuchen und Hannes-Wader-Livealben eingeladen zu werden.

 

Beim wöchentlichen Treffen des August-Bebel-Vereins wird deutlich, wie tief die Angst sitzt, die Grevensteiner könnten sich für die simplen Parolen von Herrschaftsfreiheit, Genossenschaftswesen und Emanzipation als anfällig erweisen. Plötzlich ist das Bekenntnis zum Spätkapitalismus keine Phrase mehr, sondern eine Notwendigkeit – und die Entschlossenheit wächst, Neoliberalismus, Globalisierung und die totale Ökonomisierung des Lebens mit allen Mitteln zu verteidigen. ­

 

Heute abend hat die Mitgliederversammlung die Anschaffung eines sog. ­Freiheitsmobils beschlossen, das durch den Landkreis fahren und die Bürger über die Vorzüge frei fließender internationaler Finanzströme und der Ein­schulung mit vier informieren soll. Fahrer ist Michi Gschwerl, 65 Jahre alt, Raucher von kubanischen Zigarren und selbsternanntes »Frontschwein der Plutokratie«. Gschwerl ist Chef des MBT, des mobilen Beratungsteams für sozialliberale Demokratiekultur mbH. Er soll, finanziert von Deutscher Bank und dem Land Nordrhein-Westfalen, die Menschen lehren, mit der neuen Gefahr von links umzugehen. »Immer auf die zwölf ist zwar ein wirksames Mittel, aber nicht das beste«, so der pensionierte Fabrikant von Glücksspielautomaten. »Es sind Argumente, die zählen: zum Beispiel ›Sowas wie dich hätten sie früher in die Autobahn betoniert‹, ›Schaffen Sie erst mal ein paar tausend Arbeitsplätze, junger Mann, bevor Sie sich enteignen‹ oder ›Nieder mit Springer? Wie wollen Sie denn dann Schach spielen!‹.«

 

Auf allzuviel Resonanz stößt Gschwerl dabei allerdings noch nicht – es gibt einfach viel zu wenige Linke im Hochsauerlandkreis, Rosa Liechtenstein ist wahrscheinlich die einzige. Aber auch die NSDAP habe ja mal mit sieben Leuten angefangen, sagt Gschwerl, und was sei daraus geworden? »Beinahe die Weltherrschaft – wenn nicht der Iwan dazwischengefunkt hätte!«

Und den dürfe man doch heute nicht an die Macht lassen.

»Ideologie von ›Love and Peace‹«

Stefan Michl hat die typische Vergangenheit eines Linken:

Mit 16 zog er in eine Wohngemeinschaft, las Camus und Sartre, trat Attac bei. Erst das Aussteigerprogramm »Laß dich nicht linken!« der Jungen Union ermöglichte es ihm, den Teufels­kreis von Idealismus und Gewaltfreiheit zu durchbrechen.

 

TITANIC: Herr Michl, wie gerät man in die Fänge der Linken?

 

Michl: Das kann schnell gehen, wenn man aus einem linken Elternhaus stammt. Bei uns zuhause waren bestimmte Vorstellungen gang und gäbe, etwa daß nicht alles schlecht gewesen sei unter Willy Brandt. Mein Vater erzählte mir oft von damals, vom studentischen Zusammenhalt, und hat sich auch nach dem Ende der Studentenbewegung nicht von dem Weltbild der Studenten lösen können. Später habe ich herausgefunden, daß er sogar SDS-Mitglied war.

 

Erschreckend. Wie sind Sie damit umgegangen?

 

In der Schule habe ich schnell gemerkt, daß ich Lehrer und Mitschüler mit fremdenfreundlichen Parolen gut provozieren ­konnte. Schließlich habe ich sogar Woodstock geleugnet.

 

Die Woodstocklüge ist justitiabel.

 

Das hat mich nicht gestört! Ich konnte stundenlang darüber reden, daß es Woodstock zwar gegeben hat, daß dort aber nie eine Note Musik gespielt wurde.

 

Eine halbe Million Menschen war in Wood­­stock!

 

Das ist mir heute auch klar.

 

Wann begann ihre politisch aktive Zeit?

 

Da war ich etwa sechzehn. Ich fühlte eine Faszination für Gewaltlosigkeit in mir, eine Liebe zu allem, was fremd und anders war. Also organisierte ich Partys, Konzerte, auf denen die Botschaft »Love and Peace« gepredigt wurde. Ich wollte meiner Ideologie Ausdruck verleihen.

 

Und trafen schnell auf Gleichgesinnte.

 

Ja, wir gründeten dann den Club 69. In der linken Szene gibt es viele Geheimsymbole, 69 steht für den sechsten und den neunten Buchstaben des Alphabets: FI, wie »Frieden International«.

 

»Frieden International«…?

 

Bescheuert, ich weiß. Aber damals schien mir das Sinn zu ergeben.

 

Später traten Sie in die Gewerkschaft ein und waren Gründungsmitglied der WASG.

 

Ja, ich bin auf die Propaganda von sozialer Gerechtigkeit hereingefallen, wollte mich gegen den übermäßigen Einfluß von Kapitalinteressen auf Politik und Gesellschaft engagieren. Dort bin ich zum ersten Mal Neohippies begegnet, die nichts im Kopf hatten als Blumen, gebatikte T-Shirts und grünen Tee. Die haben mich abgestoßen, mit denen wollte ich nichts zu tun haben. Die haben Sachen rausgehauen wie »Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«. Da ist mir echt die Kinnlade runtergefallen.

 

Wie haben Sie schließlich den Ausstieg geschafft?

 

Das war während der Proteste gegen den Irakkrieg. Ein Freund von mir hat eines Tages mitgeholfen, eine Lichterkette anzuzünden. Da wurde mir klar: Zu einer solchen Tat wäre auch ich fähig gewesen.

 

Oliver Nagel

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Briefe an die Leser

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt