Inhalt der Printausgabe

Warum ich nach 20 Jahren mein Schweigen breche

Eine deutsche Jugend: Oliver Maria Schmitt spricht zum ersten Mal über seine Mitgliedschaft in der Punk-Bewegung und seinen gerade erscheinenden „Punkroman für die besseren Kreise".


Herr Schmitt, Ihre Erinnerungen tragen den Titel „AnarchoShnitzel schrieen sie". Was hat es mit dem Schnitzel auf sich?

Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran. Es war aber auch nicht einfach, den richtigen Ladenpreis (19,90) und die idealen Seitenzahlen (352) zu finden. Um mich abzulenken, dachte ich an Schnitzel. Und all das sollte schon im Titel anklingen, ja durchscheinen, so wie beim Häuten einer Zwiebel. Da ich jedoch Zwiebeln nicht mag, wählte ich das Schnitzel, logich. Man kann das Leben ja auch als Abfolge verschiedener Schnitzel begreifen.

 

Oder es eben bleibenlassen. Sie sprechen nun zum ersten Mal und völlig überraschend darüber, daß Sie Mitglied der Punk-Bewegung waren. Warum erst jetzt?

Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Auch weil ich neugierig auf mich selbst war. Das mußte raus, endlich. Die Sache verlief damals so: Ich hatte mich in meiner Heimatstadt, die im Roman Hellingen heißt, freiwillig gemeldet, aber nicht, als die Punkband Hellingen SS einen Bassisten suchte, sondern die Formation Tiefschlag einen Gitarristen. Und für mich, da bin ich in meiner Erinnerung sicher, war die Punkbewegung zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine kämpferische Avantgarde, die überall dort eingesetzt wurde, wo die gesellschaftlichen Widersprüche am heftigsten waren: in den Fußgängerzonen, an der „Innenstadtfront".

 

Ihr Buch geht zurück bis in die Kindheitsjahre, es beginnt, da sind Sie fast dreizehn Jahre alt, mit dem Ausbruch des Punk. Warum haben Sie genau diese Zäsur gewählt?

Ich hatte keine andere. Der Punk, das ist der Dreh- und Angelpunkt. Als Zwölfjähriger hatte ich mich noch freiwillig als Latrinenwart zur Katholischen Jugendfreizeit gemeldet, wenig später geriet ich in die Punkbewegung und mußte schon kurze Zeit später erste Konzerte geben.

 

Haben Sie jemals mit Ihren Bandkumpels darüber gesprochen, was es bedeutet, Punk zu sein? War das ein Thema unter jungen Musikern, die sich da zusammengewürfelt fanden?

In der Band war es so, wie im Roman beschrieben: Proben, Proben, Proben. Da hieß es nur: Wie kommen wir drum herum? Ich habe mir selbst einen Akkord beigebracht, weil ich hoffte, das reicht. Danach begann wieder die Hundsschleiferei, eine unzureichende Ausbildung an veraltetem Gerät, anschließend wurden wir einfach raus auf die Bühne gejagt. Wir wurden systematisch verheizt, weil wir an die Sache glaubten.

 

Hatten Sie ein Schuldgefühlt deswegen?

Währenddessen? Nein. Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet. Man vergißt ja leicht, wie geschickt und modern die Punkbewegung aufgezogen war. Das Slime-Motto „Weg mit dem Scheißsystem" war ungeheuer wirkungsvoll. So fühlten und dachten damals viele.

„So dachten und fühlten damals ja viele. Aber später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet." Oliver Maria Schmitt beim Gespräch

Spielte das Alter der Jugendlichen eine Rolle? War ein Vierzehnjähriger den Punks nicht schutzloser ausgeliefert als ein Achtzehn- oder Zwanzigjähriger?

Gewiß, da konnte schon ein Altersunterschied von zwei Jahren große Bedeutung haben. Das habe ich oft von anderen gehört, die erst bei den Ministranten und dann bei den Punks waren: Die schönste Zeit, das war bei den Ministranten. Mit der Punkjugend kam die Pubertät, und die ewigen Gottesdienste wurden langweilig. Die Punks haben viel von den Ministranten abgekupfert: die Hingabe an die Musik, das Teilen von Brot und billigem Rotwein, das Spendensammeln im Eine-Mark-Bereich, das war für die Jugend ein attraktives Angebot. Im Vergleich zu den Zwängen, die in der Schule und im Elternhaus herrschten, schien es bei den Punks freier zuzugehen.

 

Und es ging gegen die Autorität der Eltern.

Ja, es war antibürgerlich! Aber auch hier ist die Zufälligkeit des Geburtsjahrganges wichtig. Wer weiß, in was ich hineingeraten wäre, wenn ich drei oder vier Jahre älter gewesen wäre. Da bin ich noch immer sehr neugierig.

 

Hatten Sie eine Vorstellung davon, welche Angst die Uniform, die Kluft der Punks auslöst?

Darauf hatte mich erst ein Hardcore-Punk aufmerksam gemacht, mit dem ich zu den Chaostagen nach Hannover unterwegs war. Unsere Gruppe gab es nicht mehr, sie war durch Alkohol und Bulleneinsätze aufgerieben, es war ein einziges Durcheinander und ein Versuch aller zu überleben. Mir half dabei dieser Mann vom wunderbaren Typ des deutschen Fußgängerzonenpunks, auf den man sich verlassen konnte, der alle Tricks kannte. Er bestand darauf, daß ich die Lederjacke abstreifte. So kamen wir ohne Probleme durch die Polizeisperren.

 

Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?

Nun, da war natürlich eine gewisse Leere in meinem Leben, ich hatte viel Tagesfreizeit, außerdem saßen mir massive Vorschüsse im Nacken, die mich nicht ruhig schlafen ließen. Nachdem ich den Geldsack gegen ein Kopfkissen eingetauscht hatte, ging es aber wieder.


Diese modernen
Eisenbahnen fahren
ja fast schneller
wie Flugzeuge!


Zu den verlorenen Schätzen Ihrer Kindheit gehört auch das Manuskript Ihres ersten Romans.

Ja, das war ein historischer Roman, der über mehrere Jahrhunderte im Mittelalter spielte, da gab es Femegerichte, das Stauferreich ging unter, Tod und Teufel, Pest, Kreuzzüge und grausame Schlachten, Atomblitz, Millionen Tote, Riesenüberschwemmung – und das alles auf nur acht Seiten! Ich konnte mit meinen fiktiven Figuren nicht haushalten, logich. Ein Problem, das mich heute noch quält.

 

 

Auch sonst hat Ihnen Ihr Bekenntnis zur Vergangenheit bislang wohl reichlich Ärger eingebracht.

Allerdings, das geht bis hin zur existentiellen Bedrohung. Durch mein möglicherweise überhastetes Geständnis rückt der Literaturnobelpreis nun in noch weitere Ferne. Ein anderes Beispiel: Ich habe mehreren deutschen Städten inklusive Danzig angeboten, mir die Ehrenbürgerwürde zu verleihen. Bislang erhielt ich kaum Antwort, viele Oberbürgermeister ließen sich sogar verleugnen. All das muß ich aushalten.

 

 

In Ihren Erinnerungen wird deutlich, wie viele Realitätspartikel aus Ihrem Leben den Weg in Ihr Buch gefunden haben.

Was sich da alles literarisch niedergeschlagen hat, ist mir erst beim Schreibprozeß deutlich geworden. Man kann ein solches Buch gar nicht schreiben, wenn man nicht die Neugier auf sich hat.

 

 

Sie sprechen sehr offen über Ihren Egoismus des Künstlers.

Ja, das Egozentrische. Ich weiß nicht, ob es Egoismus ist, dieser Zwang, von sich nicht absehen zu können. Diese Egozentrik ist in jungen Jahren besonders ausgeprägt, das hat mir mein Freund Günter Grass erklärt, und im Alter wird sie dann immer stärker. Noch stärker als die Neugier auf sich selbst.

 

 

Bereuen Sie die Konsequenz, mit der Sie Ihrer Egozentrik gefolgt sind?

Nein, das war bei all der verdammten Neugier auf mich selber persönlich völlig unvermeidbar, sonst hätte ich dieses Buch nicht so rücksichtslos gestalten können. Rücksichtslos gegen mich und die anderen. Die müssen es jetzt ausbaden. Scheiß Neugier!

 

 

Herr Schmitt, wir danken für dieses Gespräch.

Das sagen sie alle.

„Wir waren in Hellingen die ersten Punks und wurden dementsprechend gefeiert. In Kneipen und auf Postämtern hingen unsere Fotos aus, und nette Nachbarn markierten nachts unsere Haustüren mit einem großen P. Dabei war es gar nicht einfach, Punk zu werden. Es gab keine Ausrüsterläden, keine Doc-Martens-Shops oder Killernietenfachgeschäfte. Gewisse Hygieneartikel gehörten zur Grundausstattung: Seife brauchte man, um sie sich in die Haare zu schmieren, eine Nagelschere, um sich Löcher ins T-Shirt zu schneiden. Ich hatte andere Sorgen. Ich wollte unbedingt so aussehen wie Johnny Rotten. Aber ich wußte nicht, wie ich das mit den Haaren hinkriegen sollte. Aus dem Musikexpress riß ich ein Foto des Sex-Pistols-Sängers aus, auf dem seine räudige, furunkelrote Strubbelfrisur besonders gut zu sehen war, ging damit zum Friseurmeister Heuser in der Turmstraße und zeigte ihm das Bild: Genau so eine Haartracht wollte ich auch haben. Meister Heuser stutzte, sein schnauzbärtiger Assistent war ratlos. Eine solche Frisur war der Hellinger Friseurinnung weder bekannt noch vorstellbar. Die beiden gaben sich alle Mühe, aber hinterher sah ich aus wie ein schlecht gefärbter Alptraum, in dem Brigitte Mira die Hauptrolle spielte."                                                                  Fotos: Tom Hintner

© Rowohlt Berlin

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Wieso so eilig, Achim Frenz?

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und Senioren Seilchen springen,
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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
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25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt